Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden unter psychischen Problemen. Da sollten Eltern wachsam sein. Was sie tun können, darum ging es in der Reihe „Gesundheit beginnt im Kopf“ im Stuttgarter Rotebühlzentrum.

Stuttgart - Dass Kinder psychisch krank werden, war für viele Eltern früher unvorstellbar – zumindest nicht in der eigenen Familie. „Da gibt es das nicht“, bringt der Stuttgarter Arzt Suso Lederle diese weit verbreitet Haltung auf den Punkt. Doch die Zeiten haben sich geändert: Psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sind heute ein zunehmendes Problem, mit dem Eltern, Lehrer und natürlich die Betroffenen konfrontiert und oft genug alleinegelassen werden. In der Reihe „Gesundheit beginnt im Kopf“ im Stuttgarter Rotebühlzentrum, die Lederle moderiert, ging es jetzt um das Thema „Nicht ganz normal? Wenn Kinderseelen leiden“. Als Gesprächspartner hatte Lederle zwei kompetente Fachleute eingeladen, die beide lange Jahre am Stuttgarter Olgahospital tätig waren: Gunter Joas, jetzt Chefarzt an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Klinikum Esslingen, sowie Béla Bartus, der inzwischen an der Filderklinik arbeitet.

 

„Wenn Eltern ahnen, dass ihr Kind eine psychische Auffälligkeit entwickelt haben könnte, wollen sie es nicht wahrhaben und scheuen den Gang zum Kinderpsychiater“, berichtet Suso Lederle nicht zuletzt aus eigener Erfahrung als Allgemeinarzt. Dabei haben gar nicht wenige Kinder bereits im Grundschulalter seelische Probleme (siehe Infokasten). Und die Pubertät ist bekanntlich eine gewaltige Umbruchzeit, die auch an der Seele nicht spurlos vorübergeht. Manchen Heranwachsenden wachsen die seelischen Sorgen dann so über den Kopf, dass sie keinen Ausweg mehr sehen: „Bis zu 4000 Jugendliche im Jahr setzen ihrem Leben ein Ende“, gibt Lederle zu bedenken.

Die Probleme können sehr ernst werden

Wie ernst die Probleme wirklich werden können, wird an diesem Abend immer wieder deutlich, wenn die Experten aus ihrem psychisch-medizinischen Alltag mit Kindern und Jugendlichen berichten. Die Ursachen sind vielfältig, aber häufig macht hoher Anpassungsdruck dem Nachwuchs zu schaffen: „Die Kinder müssen heute – anders als früher – sehr viel eher funktionieren“, beschreibt Gunter Joas das Problem. Glücklicherweise kommen jedoch die meisten Kinder und Jugendlichen recht gut durch die Grundschule und „den ganz normalen Wahnsinn der Pubertät“, wie es Béla Bartus formuliert. Zeitweise Verstimmungen oder Aversionen gegen die Schule sind dabei durchaus normal. Doch wann müssen sich Eltern wirklich Sorgen machen? Bestehe da nicht die Gefahr, dass man zu lange wegsehe, wollte Lederle von den Fachleuten wissen.

„Das ist ein ganz großes Problem“, bestätigt Gunter Joas. Studien zufolge dauere es manchmal drei bis vier Jahre, bis der erste Schritt gemacht und fachliche Hilfe in Anspruch genommen werde. Ein guter Indikator für leidende Kinderseelen ist dabei die Schule: Wenn Kinder oder Jugendliche nicht mehr in die Schule wollen oder gar zu Hause bleiben, kann dies ein wichtiges Alarmzeichen sein. Auffallend ist, dass nach den Erfahrungen der Experten „schulvermeidendes Verhalten“ deutlich zunimmt. Dies gilt über alle Schulformen hinweg. Oft fallen dann Eltern wie Lehrer gleichermaßen aus allen Wolken, wenn beispielsweise eine bis dahin voll integrierte Schülerin mit guten Noten plötzlich nicht mehr in die Schule will.

Was verbirgt sich Ist-mir-doch-egal-Genöle?

Schulunlust, Gleichgültigkeit und Ist-mir-doch-egal-Genöle wird gerne als oppositionelles Verhalten abgetan, doch tatsächlich kann sich dahinter eine Entwicklung in Richtung Depression oder zu einer anderen psychischen Erkrankung verbergen. Dies ist allerdings oft schwer zu erkennen und zu diagnostizieren, da sind sich die beiden Experten einig. Und häufig geht einem solchen Leiden eine mehrjährige Entwicklungsphase voraus.

Dabei zeigen sich bei Kindern und Jugendlichen etwa bei einer Depression oft ganz andere Symptome als bei Erwachsenen, gibt Béla Bartus zu bedenken. Gleichwohl ist es wichtig, sich damit zu beschäftigen und nicht den Kopf in den Sand zu stecken: „Je länger eine psychische Erkrankung unerkannt bleibt, desto problematischer wird sie“, mahnt Joas. Zudem wachse die Gefahr der Chronifizierung.

Deutliche Alarmsignale

Allerdings gibt es auch recht deutliche Alarmsignale, bei denen die Eltern hellhörig werden sollten. Dazu zählt die Selbstverletzung, die vor allem bei jungen Mädchen stark zunimmt, wie Joas berichtet. Es sei dann ganz wichtig, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, um die Gründe herauszufinden. „Erst wenn ich mich ritze, geht der Druck weg“, sei dann ein häufig gehörtes Argument. Schneiden mit der Klinge gehe eben viel schneller als beispielsweise autogenes Training, um Druck abzubauen.

Auch ein anderes wichtiges Thema kommt an diesem Abend zur Sprache: Spielen im Internet, Daueraktivitäten in sozialen Medien, Leben in Computer-Parallelwelten. Dass es gerade auf diesem Gebiet häufig Probleme gibt, ist für Béla Bartus nicht weiter verwunderlich: Die Neuen Medien seien eigentlich die letzte Bastion, wo die Jugendlichen heute noch anders als ihre Eltern sein könnten. Das aber ist bekanntlich eine wichtige Aufgabe der Pubertät, um sich innerlich von den Eltern zu lösen. Andererseits kann es für Jugendliche richtig gefährlich werden, wenn sie völlig in Scheinwelten aufgehen und sich weitgehend im Spielen verlieren. Hier ist Prävention gefragt: „Eltern müssen schauen, was die Kinder spielen – und sich dafür interessieren“, fordert Joas. Für spielsüchtige Jugendliche wird es dann nach den Erfahrungen der Experten richtig schwer, das Spielen aufzugeben: Dann hilft womöglich nur noch eine stationäre Behandlung.

Offene und ehrliche Kommunikation ist wichtig

Was können nun Mediziner und Psychologen tun, wenn Kinder und Jugendliche unter psychischen Problemen leiden? Persönliche Betreuung, offene und ehrliche Kommunikation, auf die Kinder konzentrieren und die Eltern abkoppeln, aber andererseits doch in die Therapie mit einbeziehen – das sind wichtige Bausteine für eine Therapie. Dabei gilt es, Ursachen herausfinden und Entwicklungen aufgliedern. Gunter Joas betont, dass es bei den Gesprächen nicht um Schuldfragen geht, sondern um „Muster“, die sich entwickelt haben und die es zu ändern gilt.

Bei der Behandlung spielen auch Medikamente eine wichtige Rolle, wobei dies durchaus eine schwierige Gratwanderung ist: „Verschreibe ich einem Kind Medikamente, weil es die braucht oder damit es in der Umwelt zurechtkommt“, beschreibt Gunter Joas das Grundproblem der behandelnden Ärzte. Die müssen sich dann oft auch noch des Drucks erwehren, schnelle Erfolge zu erzielen: „Doch das ist ein Prozess, der seine Zeit braucht und manchmal anstrengend sein kann“, betont Bartus.

Psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen

Leiden
Laut der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie benötigen mindestens fünf Prozent der Mädchen und Jungen bis zum 18. Lebensjahr wegen seelischer Probleme eine ärztliche Behandlung. Weitere zehn Prozent gelten als deutlich verhaltensauffällig. Insgesamt sind das 320 000 junge Menschen in Deutschland, wie der Moderator Suso Lederle in der Veranstaltung „Wenn Kinderseelen leiden“ berichtete.

Grundschule
Häufige Probleme in der Grundschule sind Nervosität, Anspannung und Konzentrationsschwächen. Auch Übelkeit, Bauchweh und Kopfschmerzen sind typische Symptome, die auf seelische Probleme hindeuten. Dabei nimmt die Zahl der betroffenen Kinder in diesen vier Jahren zu: Einer Untersuchung der Uniklinik Heidelberg zufolge waren 5,8 Prozent der Erstklässler bereits einmal wegen psychischer Probleme in Behandlung – bei den Viertklässlern waren es 10,6 Prozent.

Pubertät
In der Pubertät sind Probleme nicht ungewöhnlich. Doch manche Krisen können sehr bedrohlich werden: Magersucht und andere Essstörungen sowie Angsterkrankungen haben in den letzten Jahren stark zugenommen. Zudem werden immer mehr Depressionen diagnostiziert. Hinzu kommen Probleme mit Alkohol und Drogen.