Die türkische Hafenstadt Mersin ist zu einer Hochburg für internationale Schleuserbanden geworden. Unser Autor hat ein Bandenmitglied getroffen und Details über das Vorgehen der Schlepper erfahren.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Mersin - Die Geschichte beginnt mit einem Missverständnis: Ich will nicht auf einem Flüchtlingsschiff über das Mittelmeer nach Italien fahren. Da hat die Frau aus Syrien, Herrin über eine unüberschaubare Zahl von Kindern, etwas falsch verstanden. Zwar nickt sie während des kurzen Gesprächs freundlich, doch kann sie aus dem für sie offensichtlich unverständlichen englischen Wortschwall einzig das Wort „Italy“ identifizieren – und zieht ihre eigenen Schlüsse.

 

Sie winkt ihren Sohn quer durch den Frühstücksraum des Hotels mit dem hochstaplerischen Namen „Nobel Otel“ heran. Ein kurzer Wortwechsel und der Knirps verschwindet in der Lobby, von wo er alsbald mit einem Zettel zurückkehrt. Darauf ist eine türkische Mobiltelefonnummer gekritzelt. Die Frau nimmt das Papier, redet und führt immer wieder mit ausholender Geste die Faust zum Ohr. Das soll wohl heißen, dass am anderen Ende der Leitung die Lösung meines Problems zu finden ist.

Nach mehrmaligem Klingeln meldet sich Ahmet – jedenfalls nennt er sich so. Er spricht ein Englisch, das durchsetzt ist mit den gutturalen Lauten des Arabischen. Als er versteht, dass ich nicht auf der Flucht bin und deshalb auch kein Schiff brauche, ist das Telefonat schon fast zu Ende. Aber Ahmet scheint dann doch geschmeichelt durch das Interesse an seiner Person – oder neugierig auf den Mann aus Deutschland.

Operationsbasis internationaler Schleuserbanden

„Also gut, trinken wir eine Tasse Tee“, willigt er schließlich ein. Treffpunkt ist am Eingang des Fischmarktes der rund 800 000 Einwohner zählenden Hafenstadt Mersin. Sie ist in den vergangenen Monaten zu einer wichtigen Operationsbasis der internationalen Schleuserbanden geworden. Ahmet ist Teil dieses Netzwerkes.

Ahmet ist jünger als erwartet, sehr viel jünger, vielleicht 18 oder 19 Jahre alt und schmächtig. Auf der Oberlippe schimmert ein Bartflaum. Sein Auftreten aber ist sehr männlich und selbstsicher. Schnell kommt der junge Mann zur Sache. Er habe keine Geheimnisse, sagt Ahmet mit ausladender Geste. Das klingt vielversprechend, entspricht aber nicht ganz dem Verlauf des dann folgenden Gespräches. Denn er erzählt viel, wird aber selten konkret, weicht bei Nachfragen aus und verschleiert eher, als dass er aufklärt.

Auf die Frage, wie er zu dem Gewerbe gekommen sei, zuckt Ahmet mit den Schultern. „Meine Eltern stammen aus Syrien, ich bin in der Nähe von Aleppo geboren und schon sehr früh mit ihnen nach Mersin gekommen, spreche also Türkisch und Arabisch.“ Immer mehr Bekannte seien nach Beginn des Krieges nach Mersin geflüchtet. Anfangs habe er nur Botendienste auf den türkischen Ämtern erledigt. „Formulare ausfüllen, Autos anmelden – solche Dinge“, sagt er. Dann aber habe sich das Geschäft weiterentwickelt. Was das heißt, will Ahmet nicht sagen. Klar wird nur, dass er inzwischen Kontakte zu den Leuten hat, „die den Syrern helfen“. Ahmet sagt nicht Menschenschmuggler oder Schleuser. Gerne betont er, dass den Flüchtlingen doch nur geholfen werde. „In Syrien werden sie vertrieben – und Europa will sie nicht reinlassen“, da müsse man doch etwas tun.

4000 bis 7000 Dollar pro Person

Wie sein Teil der Hilfe aussieht, beschreibt er genau. In der syrischen Community von Mersin wisse jeder, dass er gute Kontakte habe. Wenn jemand in der Hafenstadt angekommen ist und nach Europa will, ruft dieser ihn an. Im ersten Gespräch versucht Ahmet herauszufinden, wie konkret die Absicht ist und ob einer in der Lage ist, für die Fahrt zu bezahlen. Wenn er glaubt, dass man ins Geschäft kommen kann, ruft er wieder jemanden an, der dann die Sache übernimmt. Die Hintermänner kenne er nicht, er stehe nur telefonisch mit ihnen in Kontakt, sagt Ahmet. Sein Job ist es dann noch, dem Interessenten zu zeigen, wo er die Anzahlung von ein paar Hundert Dollar für die Fahrt über das Mittelmeer leisten muss. In seinem Fall ist das ein kleines Handygeschäft in einem der Basare hier.

Was danach passiert, entziehe sich seiner Kenntnis, versichert Ahmet lächelnd, aber er weiß, dass das längst ein offenes Geheimnis ist. Ist die Anzahlung gemacht, wird die gesamte Summe für die Flucht auf einer Art Treuhandkonto hinterlegt. In der Regel sind das zwischen 4000 und 7000 Dollar pro Person. Ahmet erzählt, dass die Flucht aus Syrien viele kleine Schritte nötig mache. Immer wieder muss Geld fließen – für die Fahrt an die Grenze, den Übertritt, die Fahrt nach Mersin. Erst diese vielen kleinen Glieder werden zu einer Kette. In der Regel kennen die Schlepper immer nur ihre unmittelbaren Kontaktleute.

Es zählt Vertrauen gegen Vertrauen

In Mersin angekommen, warten die Flüchtlinge Tage, oft auch Wochen, bis sie nachts an einem einsamen Strand in kleine Motorboote steigen und zu Frachtschiffen gebracht werden. Die liegen zu Dutzenden vor der Küste von Mersin und rotten dort – manche in Sichtweite der Strandpromenade – vor sich hin. Häufig werden allerdings schon die Zubringerboote von der türkischen Küstenwache abgefangen. Dann versuchen es die Verzweifelten und ihre „Helfer“ einige Tage danach eben wieder.

Von Mersin aus stechen die Kähne mit mehreren Hundert Menschen an Bord in See. Erst wenn die Küste Italiens in Sicht ist, geben die Flüchtlinge über Satellitentelefon einen Code durch, mit dem sie veranlassen, dass der Rest der Summe überwiesen wird. Bedeute das eine Art Geld-zurück-Garantie? Der junge Mann nickt. Selbst erlebt habe er dies noch nie. „Es zählt Vertrauen gegen Vertrauen“, sagt er.

Was in Ahmets Erzählungen nicht vorkommt, sind die vielen Menschen, die bei der Flucht über das Meer gestorben sind. Der junge Mann blendet das mit einer professionellen Coolness aus, er klingt wie ein  Geschäftsmann, der Handys verkauft, Autos oder Kühlschränke. Die Menschen würden gut verpflegt, sagt Ahmet, und das klingt, als ginge es auf eine angenehme Kreuzfahrt übers Mittelmeer.

Solche Sätze lösen im fernen Warschau resigniertes Kopfschütteln aus. Dort, im 22. Stock eines neuen Hochhauses, hat die  EU-Grenzschutzagentur Frontex ihr Hauptquartier. Hier zählen weniger die menschlichen Schicksale, eher die Statistiken. Aber auch bei Frontex sprechen die Beamten inzwischen von einem „neuen Grad an Grausamkeit“ gegenüber den Flüchtlingen. „Wenn ein nicht seetüchtiges Schiff, das völlig überladen ist, in Seenot gerät, haben die im Laderaum eingeschlossenen Menschen keine Chance“, sagt die Frontex-Sprecherin Ewa Moncure.

Inzwischen ist auch im Winter Saison

Früher, so heißt es in Frontex-Berichten, sei der Strom der Flüchtlinge wegen des schlechten Wetters und der rauen See im Winter zum Erliegen gekommen – doch jetzt ist alles anders. Seit Schleuser die Flüchtlinge auf großen, bis zu achtzig Meter langen Frachtern nach Europa bringen, sei der Menschenschmuggel zum „Ganzjahresgeschäft“ geworden. In den ersten Wochen dieses Winters seien bereits mehr als 10 000 Menschen gerettet worden. Die Schiffe würden notdürftig repariert und danach mit einer oft aus Russland stammenden Mannschaft über Zypern und Kreta in Richtung Italien geschickt.

„Die schrottreifen Schiffe sind teuer und nicht einfach zu beschaffen, aber die hohe Nachfrage macht diese Methode zu einem lukrativen Geschäft“, sagt Antonio Saccone, Leiter der operativen Abteilung bei Frontex. „Es zeigt, wie effektiv und ausgeklügelt diese Netzwerke arbeiten.“ Die Experten von Frontex haben auch eine einleuchtende Erklärung, weshalb sich die Hafenstadt Mersin zur neuen Operationsbasis für die Schlepper entwickelt hat. Der Landweg etwa durch Libyen, wo Terroristen und Verbrecher ihr Unwesen treiben, sei für die Flüchtlinge einfach zu gefährlich.

Ahmet zählt – bei Licht betrachtet – zu den Feinden von Frontex. Allerdings hat er von den EU-Grenzschützern noch nie gehört. Interessiert nimmt er zur Kenntnis, dass die Agentur die Grenzen Europas sichert und für die Operation Triton im Mittelmeer jedes Jahr fast drei Millionen Euro ausgibt. Ahmet will wissen, wie viele Schiffe Frontex hat. Als er hört, dass die Agentur viele Tausend Kilometer EU-Grenze mit drei hochseetauglichen Schiffen, sechs Küstenpatrouillenbooten, zwei Flugzeugen und einem Helikopter bewacht, lächelt er, bedankt sich höflich für das Gespräch, bezahlt den Tee und verschwindet in der Menschenmasse im Fischbasar.