Was macht uns so sittsam und ordentlich? Diese typisch württembergische Mentalität ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Disziplinierung von kirchlicher und weltlicher Obrigkeit.

Stuttgart - Als Schwabe wird man zumal in den nördlichen Regionen Deutschlands hin und wieder mit der Frage in Verlegenheit gebracht, woher denn die typisch schwäbischen Tugenden stammten, wie sie sich in der viel zitierten „schwäbischen Hausfrau“ symbolisieren. Dabei geht es nicht durchweg um Anerkennung. Die dahinterstehende Mentalität wird auch kritisch gesehen. Ein Bekannter aus dem Hamburger Raum berichtet, er habe im Rheinland und in Hessen und dann auch im Südwesten gelebt, sei aber nie solchen Vorbehalten begegnet wie in jenem schwäbischen Ort, in den es ihn verschlagen hatte. Die Schwaben seien gewiss tüchtig, aber auch misstrauisch bis abweisend. Nirgendwo habe er eine solche Mentalität angetroffen, die sich erhalten habe, obwohl längst auch viele Nichtschwaben hier lebten.

 

Die Erwiderung auf solche Feststellungen fällt nicht leicht. Der Verweis auf den traditionellen Gegensatz zwischen Preußen und Schwaben, der im Berliner Prenzlauer Berg immer noch komische Blüten treibt, reicht nicht aus. Es geht um etwas Spezielleres. Bisher habe ich immer darauf verwiesen, wir Schwaben seien von einer besonderen Frömmigkeit geprägt, dem Pietismus. Diese Glaubensrichtung habe in alle Lebensbereiche ausgestrahlt und tue es wohl immer noch. Mit ihm sei eine gewisse Engführung des Lebens verbunden gewesen, er habe aber auch Pflichtbewusstsein, Bescheidenheit und Zurückhaltung gefördert. An dieser Sicht habe ich mein Leben lang festgehalten und das Besondere an den Schwaben überwiegend dem Pietismus zugeschrieben. Jetzt erst entdecke ich: das ist falsch.

Ein kürzlich geführtes Gespräch über dieses Thema machte mir bewusst, dass meine über das übliche Maß nicht hinausgehenden landeskundlichen Kenntnisse nicht ausreichten und ich tiefer bohren musste. Einen zusätzlichen Anstoß gab die Äußerung des Freiburger Politologen Ulrich Eith über den im Südwesten angeblich herrschenden Hang zu rechten Parteien: Der in manchen Regionen fest verankerte Pietismus erzeuge eine fast instinktive Abwehrhaltung gegen Fremde und vor allem gegen jene, die sich ihr Auskommen nicht selbst erarbeiteten. Urteil oder Vorurteil?

Beim Versuch, den schwäbischen Besonderheiten auf die Spur zu kommen, stößt man in der Regionalgeschichte auf die württembergische „Ehrbarkeit“. Schon der Name ist ein Programm. Ehrbarkeit kann man definieren als eine Schicht von gehobenem Bürgertum mit alter Tradition und im Herzogtum mit erheblichem Einfluss auf die Politik des Landes. Um nur ein Beispiel zu geben: die Familie, in die der Dichter Wilhelm Hauff 1802 hineingeboren wurde, gehörte zur württembergischen Ehrbarkeit. Die Mutter war eine geborene Elsässer, ihr Vater war Richter am Obertribunal in Tübingen, dem höchsten Gerichtshof des Landes. Der Großvater väterlicherseits war Landschaftskonsulent und vertrat die Interessen der bürgerlich dominierten Landstände gegen den Herzog.

Die Ehrbarkeit war im Grunde ein Machtkartell

Diese Elite war eine einzigartige altwürttembergische Erscheinung und mit nichts in anderen Bereichen des Reiches vergleichbar. Die Ehrbarkeit, modern ausgedrückt eigentlich ein Machtkartell einflussreicher Familien, verfügte über kein Statut, keine gesetzliche Grundlage, weshalb eine klare Definition schwierig ist.

Das wichtigste Merkmal Württembergs in jener Zeit war die Verzahnung von Staat und Kirche, und die Ehrbarkeit war darin eingebunden, weil die Geistlichkeit ein wichtiger Teil von ihr war. Bereits mit dem Tübinger Vertrag von 1514 konnte sich diese Landeselite durch den damals einberufenen Landtag wesentliche Rechte sichern: So war der Herzog zumindest auf dem Papier von ihrer Zustimmung abhängig, wenn er Steuern erhöhen oder Kriege führen wollte.

Die Ehrbarkeit entstand im Spätmittelalter, aber eine entscheidende, ja prägende Rolle begann die Ehrbarkeit erst nach der Reformation zu spielen, die Herzog Ulrich 1534 in Württemberg einführte. Als Folge dieser Hinwendung zum Protestantismus verschwand der Adel fast völlig aus dem Staatsleben. Die als ehrbar geltenden Familien übernahmen dessen Funktionen. Sie stellten die Mitglieder in der „Landschaft“, das ist die Summe der Amtsstädte beziehungsweise deren Vertreter im Landtag.

Dadurch entstand eine einzigartige Konstellation: Im Landtag stand dem Herzog nur noch eine Gruppe gegenüber, in der die Prälaten eine besondere Rolle spielten. Nach der Reformation waren sie zu Leitern der Klöster geworden, die man zu Klosterschulen umwandelte und die für theologischen Nachwuchs zu sorgen hatten. Das war auch dringend nötig, denn die Reformation hatte Lücken gerissen. Nicht alle alten Familien schlossen sich dem neuen Glauben an. Hier boten sich weniger begünstigten Familien endlich Aufstiegschancen, die sie auch wahrnahmen.

Bürgerkinder sollten in die oberen Schichten aufsteigen

Von 1538 an bestand die „Landschaft“ nur noch aus evangelischen Mitgliedern. Da auch etwa sechzig Prozent der Pfarrer sich geweigert hatten zu konvertieren und außer Landes gingen, wurde es schwierig, die Pfarrstellen zu besetzen. Als Ausweg blieb nur ein landeseigenes Bildungssystem, das die Herzöge mit Entschiedenheit etablierten. Es war ein Ausbildungsgang in drei Stufen: Lateinschule, Klosterschule, Evangelisches Stift in Tübingen. Um Begabungsreserven auszuschöpfen, wurde das „Landesexamen“ eingeführt, das nach dem Bestehen den Übertritt in die Klosterschule ermöglichte und zu einem kostenlosen Studium in Tübingen berechtigte.

Das damals entscheidende Theologiestudium sollte auch nicht zur Ehrbarkeit zählenden Bürgerkindern die Chance bieten, in die obere Schichten aufzusteigen. Entsprechend groß war der Andrang von Kindern, die nicht zu den legendären „vierzig Familien“ gehörten. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war der Andrang so groß, dass in einem Generalreskript festgelegt wurde, möglichst keine „gemeiner Leute Kinder“ zum Landexamen zuzulassen. Auf den Schülern lastete ein enormer Leistungsdruck. Die Prüfungen führten auch zur Konkurrenz zwischen den ehrbaren Familien. Versagte einer ihrer Söhne, wurden die Väter stigmatisiert. Der Fortbestand der Familien war ja nicht wie beim Adel durch Geburt vorgegeben, sondern hing von der Leistung ab, die immer wieder bewiesen werden musste. So prägte sich der Leistungsgedanke tief in den schwäbischen Charakter ein.

Im Jahr 1565 wurde die evangelische Lehre quasi zum Landesgrundgesetz. Die Führung in Landschaft und Landtag ging auf die Prälaten über. Dank seiner umfassenden Kenntnisse war der Prälat von Bebenhausen, Christoph Friedrich Stockmeyer, in der Lage, die Stellung der Ehrbarkeit und der großen Familien insgesamt zu fördern. Damit gewann der Landtag jenen bürgerlich-theologischen Charakter, der die altwürttembergische Sonderart ausprägte. Das führte auch zu einer dem Lande eigentümlichen konfessionellen Enge und rigiden Haltung. Bestimmend für die Entwicklung waren die Sittengerichte. Dass sie überhaupt entstanden, hatte gewiss auch mit der allgemeinen Verwahrlosung durch den Dreißigjährigen Krieg zu tun.

Im Jahr 1643 ergingen Landesgesetze zur Förderung der Sittlichkeit. Sie waren entscheidend für die Herausbildung einer spezifisch württembergischen Mentalität mit ihren Tugenden wie Fleiß, Sparsamkeit und Ordentlichkeit. Diese bis heute nachwirkende Sittsamkeit war das Ergebnis einer zwei Jahrhunderte langen Disziplinierung im engen Zusammenwirken von kirchlicher und weltlicher Obrigkeit. Die Überwachung der Sitten, auch „Kirchenzucht“ genannt, erfolgte durch den Kirchenkonvent. In jeder Pfarrei wurde ein Sittengericht gebildet, das aus dem Pfarrer, dem Ortsvorsteher und einigen Beiräten gebildet wurde. Anklänge daran finden sich schon in Herzog Christophs Kirchen- und Schulordnung. In der Landesordnung von 1567 gab es ein Kapitel: „Wer und wie man Laster angehen soll.“ Auch gab es die Aufforderung, Mitbürger, die man beim Begehen von „Sünden“ beobachtete, zu melden, also zu denunzieren. Jedermann im Lande war zum Sittenwächter bestellt.

Genf als Vorbild

Das Vorbild dafür hatte man in Genf gefunden, wo der Reformator Calvin versucht hatte, einen Gottesstaat zu errichten. Die Sittenkontrollen haben das Leben der Württemberger über sechs Generationen hinweg nachhaltig geprägt. Gemildert und abgeschafft wurden sie erst im Jahr 1889. Die negativen Auswirkungen dieser Gesetzgebung werden immer noch dem Pietismus angelastet. Aber die Pietisten waren nicht deren Verursacher. Die Folgen waren das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit von Staat und einer zentralistisch aufgebauten Kirche und der daraus folgenden strengen Überwachung der Sitten durch den Kirchenkonvent.

Als der Pietismus aufkam, war die schwäbische Mentalität bereits vorgeprägt. Es lässt sich nicht genau sagen, ob die pietistische Bewegung eine Reaktion auf den lutherischen Dogmatismus und die besonderen württembergischen Verhältnisse war. Er trat auch andernorts in Erscheinung, etwa in Preußen. Die berühmten Franckeschen Anstalten in Halle sind von dem pietistischen Geist geprägt. Pietismus – das ist eine Form der subjektiven Frömmigkeit, mehr nach innen gerichtet als nach außen. Nicht von ungefähr spricht man von den „Stillen im Lande“. Allein schon ihrer Zurückhaltung wegen können die Pietisten nicht als Gegenelite zur Ehrbarkeit gelten. Voraussetzung dafür wäre eine Abspaltung von der Landeskirche gewesen.

Freiraum für die Pietisten

Zwar gab es, wie bei dem profilierten Pietisten Johann Albrecht Bengel, Tendenzen in dieser Richtung, aber dass es zu einer Trennung nicht kam, ist wohl Georg Bernhard Bilfinger zu verdanken. Er hatte in Halle bei dem Philosophen der Aufklärung Christian Wolff studiert, war später Theologie-Professor in Tübingen und dann Konsistorialpräsident geworden. Von dieser Position aus erreichte er mit den Pietisten einen Kompromiss, der sich in dem Pietismusreskript von 1743 niederschlug.

Dieses Dokument sicherte die Einheit der Landeskirche und gewährte den Pietisten Freiraum für ihre besondere Form der Gläubigkeit. Sie waren nicht missionarisch, wirkten so gut wie nie direkt auf andere Gläubige ein. Sie blieben eine stille „Fraktion in der Landeskirche“. Dissidenten, die es immer wieder gab, zogen es vor, in die Vereinigten Staaten, in den Kaukasus oder nach Palästina auszuwandern.

Oder aber sie bildeten pietistische Enklaven in Korntal oder in Wilhelmsdorf, blieben aber Mitglied der Landeskirche. Bei der geistlichen Ehrbarkeit kam es zu familiären Verbindungen zwischen Lutheranern und Pietisten. Das war nicht besonders verwunderlich, schließlich kannten sich deren Kinder über das gemeinsame Erziehungssystem Klosterschule und Tübinger Stift persönlich. Auch wenn eine gründliche Mentalitäts-Soziologie nach wie vor fehlt, so lässt sich doch mit Sicherheit sagen, dass die Pietisten am wenigsten dazu beigetragen haben, den schwäbischen Charakter zu prägen.