Beethovens neuente Sinfonie wird in der Elbphilharmonie in Hamburg zum Auftakt des G-20-Gipfels aufgeführt. Was Musik so alles bewirken kann.

Stuttgart - Am vergangenen Freitag sollte die venezolanische Pianistin Gabriela Montero in der Komischen Oper Berlin das erste Klavierkonzert von Peter Tschaikowsky spielen. Als sie und die Dirigentin Mirga Grazinyte-Tyla das Podium betraten, erhoben sich in der ersten Reihe eine Frau und ein Mann und stimmten Venezuelas Hymne an – ein Zeichen des Protests gegen die politischen Zustände in ihrem Land. Man ließ sie eine Weile gewähren, bis die von der Aktion berührte Pianistin in die Tasten griff. Es sei die „herzzerreißendste und machtvollste“ Aufführung dieses Konzert in ihrer Karriere gewesen, schrieb Montero später auf Facebook. Nicht alle Zuschauer hatten verstanden, was vorgefallen war, und als Montero vor der Zugabe einige erklärende Worte sprach, die Lage in ihrem Land schilderte, erfuhr sie nicht nur Zustimmung. Dies sei kein Ort für politische Dinge, rief ein Zuhörer vom Balkon herab. Montero erwiderte: „Musik handelt von Menschlichkeit, andernfalls wäre sie bedeutungslos.“

 

Kunst und Musik im Widerstreit ihrer Gegenwart, das ist kaum eine Frage, sondern Tatsache. Musik fixiert in Noten mag absolute Qualitäten haben: wird sie zum Klingen gebracht, ist es relevant, an welchem Ort, vor welchem Publikum, unter welchen politischen Bedingungen. Und eine ethische Dimension tritt hinzu. „Denn nicht nur Politik, Kultur- und Kunstpolitik haben etwas mit Moral zu tun, sondern Kultur und Kunst selbst“, konstatierte der Theatermann Ivan Nagel einmal in einem Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“. Sprich, die Autonomie eines musikalischen Werks wird im Moment, in dem es körperhaft wird, aufgehoben. Das weiß die Bundeskanzlerin Angela Merkel als Freundin der Musik, und erweist sich nun als ebenso klug wie listig. Sie setzt auf die sprechende Kraft von Tönen und Worten. Ihr Gewährsmann ist Ludwig van Beethoven.

Während der Schah in der Oper saß, starb Benno Ohnesorg

Seine neunte Sinfonie hat sie sich für die Teilnehmer des G-20-Gipfels in Hamburg erbeten. Jetzt am Freitag wird diese Sinfonie, bei der erstmals in der Musikgeschichte am Schluss ein Chor und Solisten aufgeboten werden, vom Philharmonischen Staatsorchester, dem Chor der Hamburgischen Staatsoper und namhaften Solisten unter der Leitung von Kent Nagano in der Elbphilharmonie aufgeführt. Komplett. Vier Sätze, in denen es schicksalsmächtig von höllenähnlichem Beginn ins Elysium geht.

Angela Merkel lässt eine beinahe abgestorbene Tradition wiederaufleben. In den fünfziger, sechziger, noch siebziger Jahren gehörten zu Staatsbesuchen nicht nur in Deutschland festliche Opernaufführungen, seltener Konzerte. Am 2. Juni 1967 starb der Student Benno Ohnesorg bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien während zu dessen Ehren in der Deutschen Oper Berlin Mozarts „Zauberflöte“ gegeben wurde. Auch in Hamburg wird der Protest nicht kleinlaut sein, hoffentlich ohne schlimme Folgen.

Mehrere Aspekte sind an Merkels Plan bestrickend: rein symbolisch zwingt sie einige notorische Lautsprecher unter den Präsidenten einfach mal zur Stille, zum Schweigen und Zuhören. Rund siebzig Minuten kein Trump-Getwitter, kein Erdogan-Gepoltere. Ferner müssen diese Herren Worte hören, die ihnen nicht lieb sein werden (man darf davon ausgehen, dass die Protokollabteilungen Übersetzungen bereit halten), Friedrich Schillers „Ode an die Freude“, die Beethoven dem Solobassisten anvertraut, die markant und in unseren Ohren vielsagend anhebt: „O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere“. Und am Schluss folgt die beinahe multiethnische, multireligiöse Friedensbotschaft: „Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt! Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.“ Schließlich bekräftigt Merkel ihr Bekenntnis zu diesem Kontinent. Die Melodie zu den Worten „Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium“ ist seit 1985 die Hymne der Europäischen Union und des Europarates.

Kritische Stimmen im Internet

Der Sinn-Kern dieses Finales lässt sich vielleicht am besten mit einem Cluster, einer Art Worthaufen einkreisen: Toleranz, Sympathie für das Fremde, Grenzüberschreitung, Humanität, Utopie, Frieden – und im Rasen der Musik in den letzten Takten eine Art von Transzendenz. Beethovens Botschaft hat in gelungenen Aufführungen – Merkel ist so eine zu wünschen – eine bestürzende Kraft und immer wieder aufs Neue überwältigende Wahrheit.

Nach Ankündigung dieses G-20-Gipfelkonzerts folgten im Internet kritische Stimmen. Auf dem Blog Slipped Disc des englischen Musikpublizisten Norman Lebrecht waren Kommentare zu lesen wie „Schande über Nagano“ und „Musiker, die integer sind, sollten die Aufführung boykottieren“, alle in Hinsicht auf die „Diktatoren“ geäußert, die der Aufführung beiwohnen würden. Das berührt die Frage, wie weit es statthaft ist, dass Musiker vor und für Politiker auftreten, deren Handeln umstritten ist. Der Dirigent Wilhelm Furtwängler hatte beinahe zwei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg auch deshalb Auftrittsverbot, weil er sich Parteitagen der Nazis und anderen Propagandaterminen nicht verweigerte. Ein berühmtes Beispiel ist die Aufführung von Beethovens Neunter am Vorabend von Hitlers Geburtstag in der Berliner Philharmonie. Furtwängler war der Annahme, die deutsche Musik vor denen, die sie vereinnahmten, schützen zu können, allein indem er, der Humanist, der an eine höhere Ordnung und Wahrheit glaubte, sie aufführte. Wie weltfremd und naiv. 1942. Doch hört man heute den Mitschnitt dieses Konzerts, dann wird die Spannung fühlbar. Nicht oft erklingt diese Musik, etwa das Adagio, so trauervoll und abgründig, und zerschießt andererseits das Finale gleichsam in einer Raserei, bei der die Botschaft des „Alle werden Brüder“ sich selbst kaum mehr zu glauben scheint. Oder nur in höchster Erhitzung. Beethoven hat die Vereinnahmung überlebt.

Übrigens hat eine Anfrage beim Staatsorchester in Hamburg ergeben, dass kein Musiker oder Sänger sich weigern werde, am G-20-Konzert für Trump, Erdogan, Putin, aber eben auch Emmanuel Macron, Paolo Gentiloni, Justin Trudeau oder Angela Merkel mitzuwirken.