Auch nach der erneuten Verhaftung des Drogenbosses Joaquín Guzmán alias El Chapo floriert in Mexiko das Organisierte Verbrechen. Experten sagen: Das ist, wie wenn man bei einer Großbank den Vorstand austauscht.

Korrespondenten: Klaus Ehringfeld (ehr)

Mexiko-Stadt - Mexikos Präsidenten lässt das Thema nicht los. Sei es im Kontakt mit Regierungen, sei es mit Wirtschaftsführern: Überall muss Enrique Peña Nieto mehr über Kartelle und Capos reden als über Investitionen und Innovationen. Dabei will Peña Nieto sein Land ja schon seit Jahren als das Paradies für ausländische Unternehmen preisen. Aber irgendwie funkt ihm immer wieder „Der Kurze“ dazwischen. Erst fingen die Sicherheitskräfte „El Chapo“, dann floh der spektakulär und gab die Regierung der Lächerlichkeit preis – und nun, seit Joaquín Guzmán, der Chef des Sinaloa-Kartells, erneut geschnappt ist, dreht sich alles um die Frage: Ausweisen oder Aburteilen?

 

Kürzlich beim Weltwirtschaftsforum in Davos bezog Peña Nieto deutlich Stellung und sagte, er habe die Justiz angewiesen, die Auslieferung unter Hochdruck vorzubereiten. Aus den Augen aus dem Sinn? Wenn das so einfach wäre. Doch das Sinaloa-Syndikat funktioniert auch ohne seinen bekanntesten Boss einfach weiter. Da sind sich die Experten einig, schließlich zählen sie Guzmáns Organisation doch zu den „Top Five“ des Organisierten Verbrechens auf dem Planeten.

Der größte Rauschgiftlieferant der USA

Auch die Fahnder der US-Antidrogenbehörde DEA wissen: Das Sinaloa-Kartell aus dem Nordwesten Mexikos ist der größte Rauschgiftlieferant der USA. Es dominiert dort den Markt für Kokain, Heroin, Marihuana und Amphetamine. Laut US-Justizministerium bringen die Sinaloa-Schmuggler und ihre Partner jeden Monat zwei Tonnen Kokain und zehn Tonnen Marihuana in mehr als eintausend Städten der Vereinigten Staaten an die Konsumenten. Daran hatte auch die Festnahme Guzmáns im Februar 2014 nichts geändert. Im Gegenteil, wie die DEA urteilt: Laut Dokumenten der Behörde führte der Drogenkönig bis zu seiner Flucht im Juli 2015 das Kartell weiter über seine Anwälte und ein von korrupten Wärtern geschmuggeltes Mobiltelefon. Den Rest der Arbeit erledigte sein Partner Ismael „El Mayo“ Zambada aus seinem Versteck – irgendwo in den Weiten der Sierra Sinaloa.

Diese kongeniale Allianz zweier der ältesten Mafiabosse Mexikos hat das Sinaloa-Kartell zur dominierenden Organisation nicht nur in den USA, sondern auch in knapp einem Drittel der mexikanischen Bundesstaaten gemacht. Das Syndikat schickt sein Rauschgift von dort aus auf alle Kontinente: Australien, Afrika, Asien und Europa. Aber auch seine Mitarbeiter sendet „El Chapo“ ungehindert auf Mission, wie er in dem Interview mit dem Schauspieler Sean Penn erzählte. Guzmán verriet im unter anderem, dass er seine Tunnelbauexperten zur Weiterbildung zu deutschen Ingenieuren ausgesandt habe.

Aktives Großunternehmen des Organisierten Verbrechens

Das „Sinaloa-Kartell“ sei längst ein in vielen Ländern der Welt aktives Großunternehmen des Organisierten Verbrechens, sagt Edgardo Buscaglia, Kriminalitätsexperte und Leiter des International Law and Economic Development Centre in Mexiko. Es widmet sich in insgesamt 55 Staaten 21 illegalen Aktivitäten, darunter sind vor allem Menschenhandel, Raub von Rohstoffen und Produkt-Piraterie. „Heute ist das Sinaloa-Kartell die fünftgrößte kriminelle Organisation der Welt“.

Nach Berechnungen des US-Wirtschaftsmagazins „Fortune“ auf Grundlage von Informationen der US-Regierung und Forschungseinrichtungen streicht das Kartell drei Milliarden Dollar jährlich mit dem Rauschgiftschmuggel in die USA ein. „Dazu kommen dann noch die Gewinne aus Erpressung, Schmuggel anderer Produkte, Menschen- und Waffenhandel“, sagt Buscaglia.

Korrupte Politikern und bestechliche Justiz

Daher garantiere die Festnahme Guzmáns dann auch in keiner Weise die Zerschlagung des Syndikats. In einem Land wie Mexiko mit korrupten Politikern und bestechlicher Justiz bleibe eine solche Festnahme ohne Folgen, betont der Kriminalitätsexperte Buscaglia. Die Ergreifung großer Bosse wie „El Chapo“ nutze gar nichts, wenn nicht zugleich das politische System bekämpft werde, das sie geschaffen habe oder möglich mache. „Die am besten organisierte Kriminalität sitzt noch immer in der Regierung, es sind all die Gouverneure, Minister und staatlichen Helfershelfer, die Chapos Ausbrüche ermöglicht und seine Finanznetze und Firmen unangetastet gelassen haben.“

Zudem sei „Chapo“ Guzmán nur eine der Führungs-Figuren des Syndikats, das horizontal organisiert sei, tausende Franchise-Ableger in der legalen Wirtschaft habe und ständig taktische Allianzen schmiede. Den Platz von Guzmán werde einfach ein anderer Kopf des Kartells einnehmen, fügt Buscaglia an. „Es ist so, wie wenn man bei einer Großbank einen Vorstand austauscht. Dann gehen die Geschäfte auch ungehindert weiter“.

Kartell bestimmt einen Nachfolger für Guzmán

In Mexiko selbst droht nach Einschätzung des Autors Don Winslow in der Nach-Chapo-Ära ein Verteilungskampf um Routen und Reviere. Die Struktur der mexikanischen Drogenkartelle werde in ähnlicher Weise auseinanderbrechen wie das im Irak nach Saddam Hussein der Fall war, schrieb Winslow kürzlich in der „FAZ“. „Gut möglich, dass das Sinaloa-Kartell einen Nachfolger für Guzmán bestimmen und die Macht behalten wird, aber die Geschichte zeigt, dass Mexiko noch mehr Blutvergießen erleben wird, wenn Einzelne und Gruppen um die Kontrolle der lukrativsten Drogenrouten kämpfen.“ Mexiko stehe nun noch mehr Chaos und Gewalt bevor, ist sich der Autor sicher, der wie kaum ein anderer die Geschichte des mexikanischen Drogenphänomens in den vergangenen Jahrzehnten untersucht hat. In seinen Büchern „Tage der Toten“ und „Das Kartell“ beschreibt Winslow eindringlich die Auswirkungen des Problems.