Um Menschen anzuspornen, setzt man lieber auf ihre Hilfsbereitschaft, als ihnen Geld zu zahlen. Doch so tickt unsere Gesellschaft nicht mehr, kritisiert der Starphilosoph Michael Sandel, und das ist die Wurzel vielen Übels. Auf dem Kirchentag erläutert er am Freitag seine These. Wir begleiten die Veranstaltung live via Twitter.

Stuttgart - Am Freitag um 11 Uhr wird der amerikanische Philosoph Michael Sandel auf dem Kirchentag auftreten, ein Bestsellerautor und Star in den USA. Ich werde darüber auf Twitter und der StZ-Website berichten. Der Titel seines Vortrags ist irreführend: „Was Geld nicht kaufen kann“, heißt er, so wie eines seiner populären Bücher. Passender wäre hingegen: „Was Geld nicht kaufen sollte“, denn Sandel kritisiert, dass das Marktdenken seit den 1980er-Jahren in Bereiche vordringt, in denen es nichts zu suchen hat. Wir haben nicht bloß eine Marktwirtschaft, lautet sein Slogan, sondern wir werden zu einer Marktgesellschaft – ein Slogan, den Peer Steinbrück (SPD) im Wahlkampf zitiert hat.

 

Nicht immer ist der Markt ein effizientes Mittel, um Angebot und Nachfrage zusammenzubringen. Menschenhandel lehnen wir zum Beispiel ab, denn jeder Mensch besitzt eine Würde, die unantastbar ist. Selbst wenn er sie verkaufen wollte, dürfte er es nicht. Aber es gibt viele weitere Bereiche, die strittiger sind. Leihmütter und Söldner sind zwei von Sandels Beispielen. Aber er diskutiert auch solche, die vielleicht harmlos erscheinen: etwa das Angebot der Firma Linestanding.com, die in Washington, D.C. Personen organisiert, die sich für einen Lobbyisten zu einer Kongressanhörung anstellen. 50 Dollar die Stunde soll das laut Sandel kosten. Was hat er dagegen? Er spricht von einer Abwertung: manche Dinge (in diesem Fall: die Offenheit von Kongressanhörungen) verlieren ihren sozialen Wert, wenn sie zu einem Handelsgut werden.

Für Sandel ist das die Wurzel vielen Übels: Sowohl die Finanzkrise als auch die Politikverdrossenheit gehen seiner Ansicht nach auf die unreflektierte Übernahme des Marktdenkens zurück. Und er fordert in einer Essaysammlung: „Je weiter das ökonomische Denken auf das gesellschaftliche und staatsbürgerliche Leben übergreift, desto weniger lässt sich Marktdenken von moralischem Denken trennen.“ Kurzum: auch Ökonomen sollten sich um Ethik kümmern. Einen kurzen englischen Beitrag zu seiner Kernthese gibt es hier, und hier ein fünfminütiges Video, das ihn bei einer seiner gut besuchten Diskussionsrunden zeigt. Auf dem Kirchentag in Stuttgart wird Sandel wohl kaum etwas anderes erzählen. Aber ich bin gespannt darauf, wie er sich auf sein deutsches Publikum einstellt – und was das Publikum von ihm wissen will. Wie konnte es soweit kommen? Und was können wir dagegen tun? Das wären zwei Fragen, die einige seiner Kritiker in der Vergangenheit aufgeworfen haben.

Mich erinnert Sandels These an einen Bestseller des Ökonomen Dan Ariely: „Denken hilft zwar, nützt aber nichts“. In einem Kapitel zieht Ariely einen Trennstrich zwischen der sozialen Welt und der Welt der Märkte. Die Trennung ist so scharf wie die zwischen normalem Sex und gekauftem. Er schildert das an einem Experiment, das er mit seinem Kollegen James Heyman vor elf Jahren im Fachmagazin „Psychological Science“ veröffentlicht hat. Er ließ seine studentischen Probanden fünf Minuten eine langweilige Aufgabe erledigen: so oft es geht, mit der Maus einen Kreis aus der linken Bildschirmhälfte auf ein Viereck in der rechten Hälfte ziehen. Wenn die Teilnehmer fünf Doller dafür bekamen, brachten sie es im Durchschnitt auf 159 Kreise – bei 50 Cent hingegen nur auf 101. Die Motivation war offenbar niedriger, weil es weniger zu verdienen gab. Wenn der Versuchsleiter den Probanden aber gar nichts zahlte, sondern sie vielmehr um einen Gefallen bat, stieg das Ergebnis auf 168 Kreise. „Menschen sind bereit, kostenlos zu arbeiten oder für einen angemessenen Lohn“, lautet Arielys Fazit.

Viel Mühe gaben sich die Versuchspersonen auch, wenn Ariely und Heyman ihnen kleine Geschenke überreichten, etwa einen Schokoriegel im Wert von 50 Cent. Nicht aber, wenn sie den Probanden sagten, dass es sich um einen Schokoriegel im Wert von 50 Cent handelt. Sobald Geld erwähnt wird, wechseln Menschen aus einem sozialen Kontext in einen ökonomischen – und 50 Cent sind einfach nicht genug Lohn für fünf Minuten Langeweile. Ariely warnt deshalb davor, die beiden Sphären zu vermischen. Eines seiner Beispiele ist auch eins, das Michael Sandel zitiert: 1998 wurde in einigen israelischen Kindergärten probeweise eine geringe Strafgebühr eingeführt, wenn Eltern ihre Kinder mehr als zehn Minuten zu spät abholten. Das führte dazu, dass die Eltern, die zuvor ein schlechtes Gewissen hatten, wenn sie ihr Kind zu spät abholten, nun rational abwägen konnten: Lohnt es sich heute, mich zu beeilen? Im Ergebnis wurden doppelt so viele Kinder zu spät abgeholt als zu Zeiten ohne die Strafgebühr.