Die Personenfreizügigkeit in der EU sei liberal, sagt Jan Bergmann, Vorsitzender Richter am Stuttgarter Verwaltungsgericht. Das werde sich angesichts der Armenflucht in den kommenden Jahren ändern.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)
Stuttgart – Die Personenfreizügigkeit in der EU sei liberal gestaltet, sagt der Richter Jan Bergmann. Er glaubt, dass sich das in den kommenden Jahren ändern wird. Jan Bergmann ist Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Stuttgart und Vorstandsvorsitzender des Europa-Zentrums Baden-Württemberg. Er unterstützt seit vielen Jahren den Justizaufbau in Osteuropa. Als Professor hält er Vorlesungen an der Uni Stuttgart – unter anderem zu Recht und Politik in der Europäischen Union.
Herr Bergmann, hat Sie die Initiative des Städtetages in Sachen Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien überrascht?
Nein, das überrascht mich nicht. Beim Verwaltungsgericht registrieren wir eine sehr hohe Zahl von Klagen auf Asyl durch Roma aus den Nicht-EU-Ländern des Balkans. Das lässt den Rückschluss zu, dass auch aus den EU-Staaten Rumänien und Bulgarien viele Roma nach Deutschland kommen.

Es wird oft allgemein unterstellt, dass der Anteil der Roma an Straftaten sehr hoch sei. Können Sie diesen Eindruck aus Ihrem Alltag als Richter bestätigen?
Das kann ich aus meiner Sicht als Verwaltungsrichter eindeutig verneinen. Ich persönlich habe keine Auffälligkeit festgestellt. Bezogen auf meinen Aufgabenbereich stehen alle Nationalitäten vor Gericht – auch viele Deutsche.

Jan Bergmannprivat Sie sind seit Jahren immer wieder in Rumänien und Bulgarien unterwegs und helfen dort im Namen der EU, das Justizsystem aufzubauen. Was motiviert die Menschen, ihr Land zu verlassen?
Das zentrale Problem ist die Armut. Um das zu erkennen, reicht eine Fahrt vom Flughafen in Sofia in die Innenstadt. Man passiert Roma-Siedlungen, in denen bitterste Not herrscht. Es gibt Hütten mit Wellblechdächern und Lehmböden, dazwischen stehen Esel. Das erinnert an die Favelas in Südamerika.

Der Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich fordert, dass man härter gegen die Armutseinwanderer vorgehen müsse. Wie wäre das denn möglich?
Es kommt darauf an, was „härter vorgehen“ heißt. Wenn die Menschen, die zu uns kommen, EU-Bürger sind, haben sie das Recht der Freizügigkeit hinter sich. Die öffentliche Hand kann prüfen, ob die Zuwanderer zum Beispiel krankenversichert oder sozialhilfebedürftig sind. Dann kann man unter Umständen die Freizügigkeit durch eine sogenannte Verlustfeststellung beseitigen. Andere Maßnahmen sind rechtlich gegenüber EU-Bürgern sehr schwierig. Insbesondere Maßnahmen, wie sie etwa in Frankreich getroffen worden sind, wo Siedlungen mit Planierraupen zusammengefahren und Leute mit Bussen nach Hause gefahren wurden. Ein solches Vorgehen halte ich europarechtlich für außerordentlich problematisch.

Die Gesetze sind also vorhanden, um Leute, die die Sozialsysteme missbrauchen, in ihre Heimat zurückzuschicken. Wo liegt dann das Problem?
Das Problem ist, dass in diesem Fall das rechtliche Instrumentarium der EU eigentlich für eine andere Personengruppe gestrickt wurde. Die Personenfreizügigkeit in der Union ist sehr liberal ausgestaltet. Denn als diese Rechtsakte geschrieben wurde, war in der EU ein Wohlstandsgefälle, wie wir es heute kennen, unbekannt. Das hat sich nach den Osterweiterungen grundlegend geändert. Zudem sind die Sozialhilfesysteme in den EU-Staaten alles andere als harmonisiert und nicht annähernd vergleichbar.

Muss die EU auf diese Defizite reagieren?
Die Personenfreizügigkeit wird mittelfristig wohl eine der großen Baustellen. Der Migrationsdruck durch das extreme Wohlstandsgefälle innerhalb der EU wird durch den Beitritt Kroatiens – und eines Tages vielleicht auch Serbiens und anderer Oststaaten – weiter steigen. Dann wird der politische Druck vielleicht so groß, dass die Personenfreizügigkeit anders konstruiert wird.