In Stuttgart beginnt mit Milaneo und Gerber eine neue Dimension des Masseneinkaufs. Unser Reporter hat sich den ersten Shoppingsamstag in den frisch eröffneten Einkaufstempeln angesehen und fand es: zu voll.

Stuttgart - Das Frühstück beginnt mit einem Zischen. Die fünf Männer öffnen die ersten Bierdosen, einer rollt seinen Schlafsack zusammen, sie hocken auf einer Mauer neben einem Treppenabgang bei der Paulinenbrücke. Über ihren Köpfen rauscht der Verkehr. Sie sitzen dort, wo kein künstliches Licht leuchtet, unter der Brücke stehen Baucontainer, Kabelrollen, Eimer, Leitern. Orangerot glimmen zwei Zigaretten, die Männer schauen zwei jungen Frauen hinterher, die mit Pappkaffeebechern in der Hand ihrem Ziel entgegeneilen, das nur hundert Meter entfernt liegt.

 

Im Gerber endet jäh die Dunkelzone der Stadt, das Einkaufszentrum empfängt seine Besucher mit sanftem Licht, das von Designern und Architekten sorgsam platziert wurde. Die beiden Frauen, Verkäuferinnen, werden gleich in einem der 86 Läden auf Kunden warten. Samstagmorgen, halb zehn, an diesem Tag beginnt eine neue Zeitrechnung im Stuttgarter Einzelhandel. Es ist das erste Wochenende, an dem beide neue Malls – das Gerber und das Milaneo – geöffnet haben. Die Verkaufsfläche im Einzelhandel hat damit binnen weniger Wochen um rund 20 Prozent zugenommen. Vor den Shops im Gerber gehen die Rollgitter hoch, die ersten Passanten kommen. Die Köpfe gehen nach links, nach rechts, viele sehen das Gerber an diesem Samstag zum ersten Mal. Zu dieser frühen Stunde bietet sich genug Platz zum Flanieren, auch um die Rolltreppen aus der Froschperspektive von unten zu betrachten, sie stehen wie lang gestreckte Lichtskulpturen im Raum.

Ein Wasserspiel plätschert sanft über einen abgerundeten Stein, eine Inszenierung wie aus dem Feng-Shui-Katalog. In einer weißen Kapsel sitzt, zwischen Bildschirm und Orchideen, eine Dame im Kostüm, die bei Fragen weiterhilft. Doch im Gerber verläuft sich keiner so schnell, die Wege auf den einzelnen Stockwerken bleiben überschaubar. Der Überraschungseffekt ist es auch: Mode von H&M und Mango, hier eine Friseurkette, dort die Telekom, und wer seiner Nase folgt, findet jene Zusammenballung von Imbissrestaurants, die auf wenigen Metern Mexiko, Italien, Japan und Indien kulinarisch vereinen. Geruchlich strömt zusammen, was nicht zusammen gehört. Die Shoppingmall ist das Endprodukt eines ausgeklügelten Konzepts: Welche Menschen könnten hier einkaufen, welche Milieus sollen angesprochen werden? Wer wird bereit sein, wie viel Geld auszugeben?

Eine Fototapete, die den Schlossplatz zeigt

Im Untergeschoss zirkelt das Gerber die Milieus ab: links Aldi, rechts Edeka. Auf der einen Seite billige Produkte, auf der anderen extrabreite Durchfahrtswege für Einkaufswagen, üppig bestückte Frischetheken und ein Weinverkauf, der mit seiner Steinoptik etwas Toskanaflair nach Stuttgart bringen will. Das Gerber spielt mit seinem Umfeld: Der Supermarkt schmückt sich mit einer Fototapete, die den Schlossplatz zeigt, und zur Tübinger Straße hin schließt der Neubau an eine alte Hausfront an, auf der sich Weinlaub rankt und ein Hinweis darauf findet, dass das Haus im Jahr 1900 erbaut wurde.

Die Hausfront verweist auf die Geschichte des Viertels, aber sie bietet nur eine Fassade, hinter der sich der Neubau des Gerbers fortsetzt. In der Stadt herrscht ein Unbehagen gegenüber Neubauten, das Gerber versucht den Brückenschlag: mit seinem Namen und mit dieser Hausfront, einer historischen Fußnote. In Stuttgart bricht eine neue Gründerzeit an, doch diesmal ist es nicht der Kaufhauskönig Eduard Breuninger, der einst die Menschen zum Geldausgeben verführte. Heute verstecken sich Investoren hinter Kürzeln wie ECE, sie erfassen das Konsumverhalten von Ballungsräumen mit Computerprogrammen, und viele Entscheidungen fallen nicht in Stuttgart, sie fallen in Hamburg.

Der Hut-Lenz befindet sich seit 1898 im Familienbesitz

In ihrem Hutgeschäft in der Alten Poststraße reicht Ingrid Deutsch einem Kunden den Handspiegel. Der Mann neigt den Kopf, betrachtet sich mit zusammengekniffenen Augen und wägt ab, ob ihm der Hut gefällt. Ingrid Deutsch besitzt viele Alternativen. Vor ihr, neben ihr, über ihr stapeln sich Hüte, nichts als Hüte. „Die Melone ist im Kommen, auch der Homburg oder der Zylinder, die alten Formen sind wieder aktuell“, erzählt Ingrid Deutsch. Gemeinsam mit ihrer Schwester verkauft sie Hüte für den eleganten Herrn, genau wie ihr Vater und ihr Großvater. Der Hut-Lenz befindet sich seit 1898 im Familienbesitz. An der Decke geben Neonröhren Licht, die Hüte sind in holzvertäfelten Schränken verstaut, bis vor Kurzem betrieben die Schwestern neben dem Verkauf eine Hutmacherei.

„Wir haben unsere Nische gefunden“, sagt Ingrid Deutsch und erzählt davon, dass auch Jüngere wieder Hüte tragen, wenn sie in die Clubs gehen. Dass der Stuttgarter Einzelhandel durch das Milaneo und das Gerber aufgemischt wird, sieht sie gelassen. „Die sind für uns keine Konkurrenz.“ Die Konkurrenz für das Hutgeschäft ist unsichtbar und gefährlich zugleich. Ingrid Deutsch weiß genau, wie es läuft, wenn sie einen Kunden verliert. „Die Leute kommen zu uns, lassen sich eine halbe Stunde beraten und fotografieren dann mit dem iPad die Artikelnummer des Huts.“ Wenn die Kunden anschließend – ohne etwas gekauft zu haben – ihr Geschäft verlassen, raunen sich die beiden Schwestern zu: „Schöne Grüße ans Internet.“

Ohne „Alleinstellungsmerkmal“ geht es nicht

Gegenüber von Hut-Lenz verkauft ein Laden namens „Blue Tomato“ Sneaker, Snowboards und Skateboards. In seinem Schaufenster werben breite Lettern für den Onlineshop des Unternehmens: „7 days a week 24 hours shopping pleasure“. Blue Tomato ist ein Unternehmen, das in der virtuellen Welt groß wurde und nun gezielt den stationären Handel erobert. Das Internet und die Welt der kleinen Geschäfte und großen Kaufhäuser können nicht mehr voneinander getrennt werden: Sie verschmelzen, sie machen sich gegenseitig Konkurrenz. Wer im neuen Einzelhandels-Monopoly überleben will, benötigt das, was im Marketingdeutsch ein „Alleinstellungsmerkmal“ genannt wird.

Beim Platzhirsch hat sich derweil Prominenz angesagt. In der Damen-Exquisit-Abteilung von Breuninger gibt sich ein Jahrhundert-Playmate die Ehre. Als solches wurde Gitta Saxx einmal vom Playboy ausgezeichnet, inzwischen hat sie die Erinnerung der Öffentlichkeit durch einen Auftritt im Dschungelcamp aufgefrischt. Vor dem Tiffany-Shop steht eine Hostesse, die auf einer Liste die Namen geladener Gäste abhakt. Die Herren sind im Anzug gekommen, die Damen im Kleid, ein Saxofonist spielt „Yesterday“ von den Beatles, dazu reicht ein Kellner prickelnde Getränke.

Platincard und Maßschneiderei

Breuninger umwirbt seine Kunden, sichert sich mit Platincards ihre Treue, lädt zu Veranstaltungen auf den Wasen, bietet eine Maßschneiderei und eine Handtaschenabteilung, die nichts für Ehemänner mit schwachen Nerven und kleinem Geldbeutel ist. Einst hat der Unternehmensgründer Eduard Breuninger in den USA die Shoppingtempel besichtigt und anschließend deren Chic als Erster nach Stuttgart importiert. Doch das Rad hat sich im Handel weitergedreht, es läuft schneller als jemals zuvor. Während im Breuninger exklusiv konsumiert wird, gräbt sich nur wenige Meter entfernt am Karlsplatz ein Bagger in die Tiefe. Hier entsteht das Dorotheenquartier, mit dem sich Breuninger fit machen will für die Zukunft und für einen Wettbewerb, der sich mit den neuen Shoppingmalls in und um Stuttgart deutlich verschärft.

Die Generation Zahnspange steht für Primark an

Der neue Gigant steht unweit des Hauptbahnhofs. An einem Bauzaun sitzt ein Bettler, er hält einen zerknautschten Becher in die Höhe. Vom Bahnhof aus ergießt sich am Samstagmittag ein endloser Strom von Menschen in Richtung Europaviertel. Mädchen in Zweier- bis Vierergruppen, Familien mit Luftballons kommen ihnen entgegen. An den gläsernen Fassaden des Bankenviertels zieht die Prozession der Zehntausenden vorbei, sie sehen zuerst die Stadtbibliothek, dann die drei massigen Quader des in gelb-blaue Transparente gehüllten Milaneos. Der Strom ergießt sich in die Eingänge des Einkaufszentrums, es fällt nicht leicht, hinter all den Menschen noch Geschäfte auszumachen. Im Inneren der Mall summt es wie in einem gewaltigen Bienenstock. Das Summen der zahllosen Neugierigen übertönt alles: Kindergeschrei, Durchsagen, Musik, das Summen schluckt alle anderen Geräusche.

Es schwillt vor dem Eingang des irischen Textildiscounters Primark, dessen Flächen sich über mehrere Etagen verteilen, zu einem Dröhnen an. Die Kunden können Primark an diesem Tag nur über das Untergeschoss betreten, auf allen anderen Ebenen versperren Mitarbeiter den Weg. Die Generation Zahnspange wartet geduldig auf den Einlass. Absperrbänder weisen den Massen den Weg, junge Mädchen reichen sich Energydrinks. Nur noch fünfzig Meter, nur noch dreißig, dann zehn, ein letzter strenger Blick des Manns von der Security – die Szene erinnert an den Check-in-Bereich eines internationalen Großflughafens.

Im Untergeschoss befindet sich das Drehkreuz des neuen Stuttgarter Billigshoppens: Die Mädchen betreten Primark mit einem bläulichen Einkaufsnetz, sie verlassen es später mit einer voll gestopften Papiertüte. Rund um die Ausgänge sitzen erschöpfte Teenager auf dem Boden und vergleichen ihre Beute. Mitarbeiterinnen des Einkaufszentrums verteilen kleine Faltpläne, „Milaneo-Guides“, die bei der Orientierung helfen sollen. Tatsächlich bietet das neue Shoppingzentrum eine eigene Welt, die sich Neuankömmlinge erschließen müssen. Primark ist an diesem Samstag so populär wie der Eiffelturm, Gelb auf Blau finden sich Wegweiser zu weiteren Sehenswürdigkeiten, nur dass die nächste Attraktion nicht Montmartre heißt, sondern Media Markt.

Überall Warteschlangen im Milaneo

Alles drängt sich, alles schiebt. Während im Gerber auch am Nachmittag kein Gedränge herrscht, finden sich im Milaneo überall Warteschlangen. Vor den Bankautomaten stehen die Menschen an, als spuckten die Maschinen kostenloses Begrüßungsgeld aus. Im Gastronomiebereich, „Food Court“ genannt, findet sich an den Tischen kein freier Platz. Einige essen ihr Thai-Curry im Stehen, andere ihren Döner auf dem Boden sitzend. Für Stuttgarter Verhältnisse stößt dieser erste Samstag in eine neue Dimension des Masseneinkaufs vor: Es kommen knapp 160 000 Menschen.

Die Mädchen schleppen ihre braunen Primark-Tüten zur Stadtbahn-Haltestelle, wo sie von Ordnern der SSB empfangen werden, die sie in die Züge lotsen. Sie stehen dicht gedrängt in der Bahn, ein älterer Herr hat noch einen Sitzplatz gefunden. Er sagt zu seiner Frau: „Wenn du das den ganzen Tag in dem Gewusel aushalten müsstest, würdest du verrückt.“