Reportage: Robin Szuttor (szu)

Als Landwirt ist man frei, das stimmt schon, sagt der Senior. Man hat sein Land, könnte Rockfestivals veranstalten, ohne irgendjemanden zu stören. Aber Nachbarn sind ja auch was Gutes. Man hält zusammen, die Kinder haben Spielkameraden.

 

Man ist sein eigener Herr, das stimmt schon, sagt der Senior. Aber auch sein eigener Sklave. Der Sklave seiner Tiere. „Oft isch’s a so, dass i vor lauter Arbet nemma nausseh.“ Jetzt geht er fünf Tage in die Berge wandern mit der Frau. Der Sohn führt in der Zeit den Hof, nimmt dafür Urlaub. Wenn der eine sich erholt, zehrt es beim anderen doppelt an den Kräften.

„Wo jetzt das Wohngebiet steht, war noch alles Wiese, als ich damals anfing.“

Frühling, das ist immer die schöne Zeit gewesen. Winter die schlechte: Eis, Schnee, jedes Mal aussteigen in die Kälte, immer aufpassen, dass die Milchleitung am Lkw nicht zufriert. „Aber das härtet ab, ich bin nie krank gewesen“, sagt Brauchle.

So fährt er seit Jahrzehnten über Land wie in einer Zeitmaschine. Draußen ist die Welt eine andere geworden. Wohngebiete sind aus dem Boden geschossen, Großgärtnereien, Schweinemast- und Ferkelzuchtbetriebe. Der Milchpreis ist tief gefallen. Ein paar Bauernfamilien sind aufgeblüht, etliche verkümmert. Brauchle ist immer nur kurz ausgestiegen. Er wartete, wie das seine Art ist, mit den Händen in den Hosentaschen, bis der Milchtank voll war, und kraxelte wieder zurück in sein Raumschiff. Der Fixstern in der Galaxie Oberschwaben. Durch seine große Windschutzscheibe hatte er die ganze Milchstraße im Blick.

Ein Feldweg bei Erolzheim. Der Jungbauer wartet schon, der Senior in Cordpantoffeln und Schaffhose kommt auch dazu. Sie wohnen im Ort und haben vor 20 Jahren hier draußen einen großen Kuhstall gebaut. Der 81-Jährige hilft jeden Tag mit: „Fuatter neigä, nach de Rinder luaga.“

Brauchle scannt den Chip am Milchtank des Bauern, dockt den Zapfschlauch des Lasters an. Zuerst wird immer ein Probenfläschle gefüllt für die Laboruntersuchung. Dann: Milch marsch. 2500 Liter.

In Hauerz ging Brauchle in die Hauptschule, im fünf Kilometer entfernten Ellwangen in die Lehre als Landmaschinenmechaniker, in Pfullendorf machte er seinen Wehrdienst. Acht Jahre schaffte er in einer Hauerzer Flaschnerei, bis er schließlich als Fahrer bei den Milchwerken anfing. Da hatte er schon geheiratet und sein Haus gebaut. Das macht man hier als Erstes. Alle Geschwister haben ein eigenes Haus, alle rund um Hauerz. Und jedes Haus war ein Familienprojekt, bei dem alle mitbauten.

Der älteste Bruder hätte gern Bauer sein wollen, aber es lohnte sich nicht mehr. 1974 verpachteten die Eltern den Hof, nach ihrem Tod wurde er verkauft und abgerissen. Manchmal fährt Brauchle dran vorbei.

Freiheit auf dem Land

Beim nächsten Hof pumpt er Milch in den Milchlaster, daneben pumpt der Bauer Gülle ins Güllefass. Man redet vom „Noachgea“ – wer alles bald aufhört. Wer schon lange „koi Milch mea liafarat“. Wer „a neue Stall baue sott, weil d’Anbindehaltung verbotte wird“. Und „mitm Melkroboter hanget ma allewei am Handy“.

Beim Raidt in Erolzheim holt Brauchle täglich sein Vesper. Sonst gibt es ja fast nirgends mehr einen Metzger oder Bäcker. Die „Bild“-Zeitung, zwei Weckle mit Bierschinken wie immer. 2,58 Euro. Abends liest er daheim die „Schwäbische Zeitung“ – von hinten, das Politische auf den vorderen Seiten kennt er dann schon vom Radio.

„Da vorne ist ein großer Schweinemastbetrieb, rechts die Ferkelaufzucht.“

Morgen wird er noch mal mit dem Neuen mitfahren und ihn in seine Touren einlernen. Dann ist Schluss. 48 Jahre hat Brauchle in die Rentenkasse einbezahlt. „Es ist schon recht, wenn man in Rente geht. Andererseits ist man gut mit den Kollegen ausgekommen.“ In den vergangenen Tagen hat er öfters drüber nachgedacht: Da bin ich heute zum letzten Mal, das mach ich heute zum letzten Mal . . . Aber er wird die Leute ja auf den Dorffesten wiedersehen. Beim Erolzheimer Weihnachtsmarkt ist er jedes Jahr mit Frau und Kindern.

Er hat eine Tochter, 40, und einen Sohn, 35. Die Tochter schafft in Wangen beim Lidl und wohnt bei den Eltern in Hauerz. Der Sohn ist Stromer bei EnBW in Biberach und wohnt im Nachbarort. Beide sind verheiratet, der Sohn lebt in Trennung. Enkel gibt es keine. „Das wär was für die Rente: Opa sein“, sagt Brauchle.

„Leck mi am Arsch, i schmeiß da Bettel nah“

Er manövriert seinen Milchzug – 17 Meter mit Anhänger misst der 40-Tonner – über kolossale Rumpelstrecken, schmale Feldwege, verwinkelte Dorfstraßen. Wichtig: gut ausholen bei den Kurven, auch mal den Gehweg mitnutzen. Und frühzeitig dran denken: „Ich brauch die Milch an der rechten Seite.“ Brauchle fährt unfallfrei seit 36 Jahren. Ein Mal war er zu schnell, 20 Mark zahlte er damals.

Manche Bauern kommen gar nicht mehr raus, wenn der Milchlaster vorfährt. Brauchle braucht nur den Milchtank. Er hält auf einen Hof, der auch als Kulisse für einen verschrobenen Oberschwaben-Krimi herhalten könnte. Hier ist schon lang nichts mehr in Schuss. „So sieht’s aus, wenn die Eltern alt sind und der Sohn ohne Frau. Wenn kein Geld mehr reingesteckt wird, es nur noch zum Überleben reicht. Und irgendwann, wenn die Eltern nicht mehr sind, sagt der Bauer: ,Leck mi am Arsch, i schmeiß da Bettel nah.‘“

Brauchle kennt die Betriebe, weiß, wie es hintenrum und innen drin aussieht: die kleinen mit einem Dutzend, die großen mit Hunderten Kühen. Die modernen und die abgewirtschafteten. „Welche Frau will auf so einen Hof? Die macht doch auf dem Absatz kehrt. Bäuerin sein, das können sich manche vielleicht noch vorstellen – wenn alles automatisiert ist. Aber Magd will keine sein.“

Manchmal kriegt er zehn Eier mit oder ein Gläsle Honig. Er kennt seine Leut. Meistens „nette Kerle“, viele ledige Jungbauern. „A weng Komische“ sind auch dabei. Und bei manchen versteht selbst ein eingefleischter Schwabe wirklich kein Wort. Es ist, als redeten sie Albanisch.

Es hat sich viel geändert

Brauchle hat Bauernfamilien wachsen sehen. Miterlebt, wie eines Tages der neugeborene Junior in der Wiege lag, wie der Junior später selber einen Junior bekam und der wieder einen Junior. Er hat gesehen, wie Betriebe langsam verwahrlosten, bis nur noch Agrarruinen dastanden. Er hat die Alten gehen sehen. Beerdigungen besucht Brauchle nicht: „Das fange ich erst gar nicht an. Wenn ich zu dem einen geh und zu dem anderen nicht, heißt es dann: ,Guck, bei ons hot er sich it seah lau.“

Ein Großbetrieb mit 14 000-Liter-Milchsilo. Brauchle betritt die Schaltzentrale, tippt am Display, um den Melkautomaten zu stoppen. Sonst öffnet der Milchhahn nicht. Beim Zumachen muss er den Computer wieder umstellen. Sonst startet der Melkroboter nicht, und nach kurzer Zeit wird Alarm ausgelöst beim Bauern, der jetzt wahrscheinlich daheim im Büro sitzt.

Bei der Kirche in Dettingen steht ein Milchfass vor einem Haus. Brauchle pumpt 400 Liter ab. Ein Klacks. Noch der prüfende Blick in den Edelstahlbottich. Zum ersten Mal an diesem Tag riecht es nach Milch.

Es hat sich viel geändert. Früher hatten die Milchwerke selber Lastwagen und eine eigene Werkstatt, heute lassen sie nur noch Speditionen fahren. Früher waren die Leute in den Dörfern enger beisammen, durch die vielen Baugebiete sind sie immer weiter auseinandergedriftet. Heute sieht man nur noch Maisfelder – wegen der Biogasanlagen. Man muss eben sehen, wie man überlebt als Bauer: „Die Kleinen werden immer weniger und die Großen immer größer.“ Früher kamen die Leute immer mit ihren Wägele zum Milchsammelhäusle, wo sie sich über die Neuigkeiten im Dorf austauschten. Früher haben noch drei, vier Generationen in einem Haus gelebt. Das geht jetzt nicht mehr. Meistens baut der Jungbauer für die Alten ein Ausdinghäusle neben dem Haupthaus oder ganz woanders im Ort.

Würde er etwas anderes machen, wenn er noch einmal anfangen könnte? „Eigentlich nicht“, sagt Brauchle. Mechaniker ist ein guter Beruf, er hat schon als Kind gern geschraubt. Kraftfahrer war er auch gern. „In einem Betrieb wär’s mir zu eng gewesen. Wie ein Vogel, den man einsperrt.“

Vollwertiges Mitglied am Rentnerstammtisch

Was kommt jetzt als Rentner? Jedenfalls läutet ihn nachts um zwei kein Wecker mehr wach für die Frühtour. Vielleicht macht er ab und zu Tagesausflüge mit der Frau: in die Wilhelma oder an den Bodensee. Ein neues Auto sollten sie kaufen, der Mazda tut nicht mehr lange gut. Sie haben schon einen Opel Meriva im Auge, da kann man gut ein- und aussteigen. „Das wird ja wichtig im höheren Alter“, sagt Brauchle mokant.

Könnte sein, dass sich seine Frau etwas beengt fühlt, wenn er jetzt ständig um sie rum ist. Er wird schon eine Beschäftigung finden. Mal der Tochter was helfen. Wenn er in der Nähe ist, bei seinen Bauern vorbeischauen, wie es so läuft. Ums Haus rum pflastern. Mit dem Nachbarn zusammensitzen. Donnerstagsabends von fünf bis sieben ist immer Rentnerstammtisch im Hauerzer Adler. Da kann er jetzt endlich als ein vollwertiges Mitglied teilnehmen.

Ein abgeschiedener Hof im Illertal. „Bleib mal noch sitzen, ich weiß nicht, wie der Hund auf Fremde reagiert.“ 70 Milchkühe stehen im Stall. Ein fortschrittlicher Betrieb. Doch gerade jetzt muss man überlegen, ob man sich vergrößert und noch mal eine Million reinsteckt, sagt der Bauer – „du muasch immer neistecka, wenn du a reachts Sach ibergea witt“. Als sie vor 20 Jahren den Stall in die Pampa bauten, wohnte die Familie zunächst noch im Ort. Das hätte sie nicht machen sollen – weil der Sohn dadurch ein bisschen von der Landwirtschaft weggekommen ist. Er war damals 14 und blieb lieber daheim, wenn der Vater zu den Kühen fuhr. Die Lücke merkt man bis heute.

Jetzt arbeitet der Junior als Industriemechaniker bei Liebherr. Aber der Hof lässt ihn nicht los. Er hilft immer mit, macht neben dem Job noch eine landwirtschaftliche Ausbildung. Demnächst hat er wieder wochenlang Blockunterricht, dafür spart er sich Urlaub und Überstunden auf. Vielleicht wird er doch noch Vollblutbauer.

Bauer ohne Bäuerin

Als Landwirt ist man frei, das stimmt schon, sagt der Senior. Man hat sein Land, könnte Rockfestivals veranstalten, ohne irgendjemanden zu stören. Aber Nachbarn sind ja auch was Gutes. Man hält zusammen, die Kinder haben Spielkameraden.

Man ist sein eigener Herr, das stimmt schon, sagt der Senior. Aber auch sein eigener Sklave. Der Sklave seiner Tiere. „Oft isch’s a so, dass i vor lauter Arbet nemma nausseh.“ Jetzt geht er fünf Tage in die Berge wandern mit der Frau. Der Sohn führt in der Zeit den Hof, nimmt dafür Urlaub. Wenn der eine sich erholt, zehrt es beim anderen doppelt an den Kräften.

„Wo jetzt das Wohngebiet steht, war noch alles Wiese, als ich damals anfing.“

Frühling, das ist immer die schöne Zeit gewesen. Winter die schlechte: Eis, Schnee, jedes Mal aussteigen in die Kälte, immer aufpassen, dass die Milchleitung am Lkw nicht zufriert. „Aber das härtet ab, ich bin nie krank gewesen“, sagt Brauchle.

So fährt er seit Jahrzehnten über Land wie in einer Zeitmaschine. Draußen ist die Welt eine andere geworden. Wohngebiete sind aus dem Boden geschossen, Großgärtnereien, Schweinemast- und Ferkelzuchtbetriebe. Der Milchpreis ist tief gefallen. Ein paar Bauernfamilien sind aufgeblüht, etliche verkümmert. Brauchle ist immer nur kurz ausgestiegen. Er wartete, wie das seine Art ist, mit den Händen in den Hosentaschen, bis der Milchtank voll war, und kraxelte wieder zurück in sein Raumschiff. Der Fixstern in der Galaxie Oberschwaben. Durch seine große Windschutzscheibe hatte er die ganze Milchstraße im Blick.

Der letzte Hof: ein Bauer ohne Bäuerin. Die Familie ackert mit: der Vater, die Mutter mit kaputtem Kreuz vom vielen Schaffen, die Schwester mit Kopftuch. Im Grunde sollte er vergrößern, sagt der Hofchef, aber dann müsste er Leute einstellen. Er will nicht klagen. Seine Kumpels haben es auch nicht einfach in ihren Firmenjobs, wenn er sie so erzählen hört. Der Druck wird überall größer. „Kommsch morga no amol? I wet dir no ebbas mitgeah zom Abschied.“

24 000 Liter hat Brauchles Milchlaster geschluckt. Fertig. Zurück zu den Milchwerken nach Neu-Ulm: Ladung abpumpen, beim Milchprüfring die Probenfläschle abgeben, Tank reinigen, den Lkw-Schlüssel ins Regal legen. Ob seine Kollegen etwas vorbereitet haben für den Abschied? „Ich lass mich überraschen.“

Er kommt ja noch mal, um seinen Nachfolger einzulernen. Er soll Rumäne sein. Ob er die Bauern überhaupt versteht? Aber das ist nicht mehr Josefs Problem. „Du kannst ja in deinen Bericht reinschreiben, dass ich mich bei den Milchwerken Schwaben und bei der Spedition Fakler bedanke.“