In Zürich zeigt Milo Rau „Die 120 Tage von Sodom“ nach Marquis de Sade und Pier Paolo Pasolini: eine komplexe Studie über Gewalt, Liebe und Behinderung.

Stuttgart - Die Kategorien geraten in schändlichste Verwirrung, heißt es bei Kleist – und was im „Zerbrochnen Krug“ auf die tollkühne Juristerei des Dorfrichters gemünzt ist, lässt sich auch aufs Einordnen und Bewerten der jüngsten Theaterarbeit von Milo Rau übertragen. Was soll man von den „120 Tagen von Sodom“ halten? Das Stück basiert auf dem Roman von Marquis de Sade, dem perversesten Werk der Weltliteratur, und dem daran angelehnten Film von Pier Paolo Pasolini, der würgendsten Gewaltstudie der Kinogeschichte – und die Darsteller kommen nicht nur vom Schauspielhaus Zürich, sondern auch von der Theatergruppe Hora, in der Menschen mit Downsyndrom arbeiten. Angesichts dieser heiklen Gemengelage greifen die bei Kleist, Büchner, Brecht erworbenen Seherfahrungen nur bedingt.

 

Wobei: Brecht hilft insofern, als Rau dessen Desillusionierungstechniken nutzt, um das Künstliche der Inszenierung, das Hergestellte von Sex, Vergewaltigung und Folter offensiv auszustellen. Der 40-jährige Regisseur reist ja immer mit großem Theoriegepäck. Er weiß, was er tut und auch, was er zu unterlassen hat, damit aus „Sodom“ keine hohle Provokation wird. Indem er im Schiffbau auf die Durchsichtigkeit der Theatermittel pocht, reduziert er die Drastik der Inszenierung. Zugleich steigert er aber ihre Zartheit, indem er auch die Gegenbilder zu Vergewaltigung, Mord, Folter entwerfen lässt – just von den geistig behinderten Horas, die hier ansonsten die Rollen der in einem Schloss kasernierten, sadistischen Ritualen ausgesetzten Männer und Frauen spielen. Das sorgt als Doppelstrategie dafür, dass der zu erwartende Porno-Skandal ausbleibt. Was sich stattdessen einstellt: ein Bündel von Themen, die der Regisseur – mit dem Vorgängerstück „Five Easy Pieces“ gerade zum Berliner Theatertreffen eingeladen – auf geistreich diskursive Weise behandelt.

Sex, fast bis zum Äußersten

Rau rahmt das Geschehen. Nicht „Die 120 Tage von Sodom“ zeigt er, sondern die Dreharbeiten dazu. Vom Bühnenhimmel hängt eine Leinwand, auf der zu Beginn der Schauspieler Robert Hunger-Bühler von seiner ersten Begegnung mit dem Pasolini-Film berichtet. Er hat ihn als 22-jähriger Bursche gesehen, damals in Madrid, als er seine Freundin besuchte: „Der Film war krass. Diese nackten Ärsche in der Dunkelheit. Ein Hochzeitsfest mit Scheißefressen. Der Film ließ mich leer zurück. Fassungslos“ – und dieses vielschichtige Nachdenken über den Stoff zieht Rau als durchgehende Metaebene in seine Pasolini-Adaption ein. Andere Metaebenen fügt er noch hinzu: Wann wird die Gewaltdarstellung auf der Bühne unerträglich? Was kann man Darstellern an Entäußerung zumuten? Wie steht es – auf der Bühne und außerhalb – mit der Würde des Menschen?

Hochkomplex verschlingen sich die Fragen. Die intensivsten Szenen, die zärtlichsten und grausamsten, gehören dabei den Horas. Fabienne Villiger und Gianni Blumer stellen eine Pasolini-Szene nach und lieben sich auf offener Szene. Sex, fast bis zum Äußersten, sehr sanft und zu sakraler Musik, auf einer Matratze vor einem aufragenden Holzkreuz – bis sie, weil’s sie es außerhalb des strikten sadistischen Reglements der Schlossherren tun, mit einer Pistole an der Schläfe erschossen werden. Auch die anderen Horas erleiden Grässliches. Im Finale werden sie systematisch bestialischer Folter unterzogen. Die Kamera hält drauf – und obwohl man auf der Leinwand sieht, wie hier lediglich Requisiten malträtiert werden, reagiert man als Zuschauer schockiert. Pasolinis „Sodom“, so der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit im Programmbuch, sei „die erste und wahrscheinlich einzige filmische Dokumentation aller KZ-Gräuel“.

Vor der Folter- und Kreuzigungsszene berichtet der Schauspieler Matthias Neukirch noch, wie er sich auf die außergewöhnliche Inszenierung vorbereitet hat. Besuch in der Bundeskunsthalle Bonn, Ausstellung zum Thema Trisomie 21: „In einem Raum ging’s um die Nazi-Zeit. Euthanasie. Im Raum daneben sah man das Heute. Ein Behinderter tanzte live. Ein kleines Papierchen war an die Wand geheftet. Darauf stand: Seit es die Pränataldiagnostik gibt, treiben neun von zehn Eltern ihre behinderten Kinder ab.“ Und wieder schließt sich einer der Höllenkreise dieses außergewöhnlichen Gewaltprojekts von Milo Rau. Es ist sehenswert, weil es ästhetisch überzeugend und inhaltlich wichtig ist.