Mindestens 50 Jugendliche, die ohne Eltern nach Deutschland geflüchtet sind, muss der Kreis Böblingen dieses Jahr unterbringen. Doch es gibt zu wenig Plätze in Wohngruppen. Das Jugendamt sucht nun Pflegefamilien.

Hidrizhausen/Böblingen - Gerade einmal 15 ist Samir (Name geändert), noch ein halbes Kind. Doch schon ganz allein auf sich gestellt. Zu Fuß flüchtete der schmächtige Junge vor dem syrischen Bürgerkrieg nach Europa. „Ich bin wochenlang marschiert, durch die Türkei, Bulgarien“, erzählt Samir. Sein Ziel: Deutschland.

 

Seine Eltern hatten ihn fortgeschickt – aus Angst um ihn. Truppen auf allen Seiten des Bürgerkriegs halten Ausschau nach Nachwuchskämpfern und machen auch vor Halbwüchsigen nicht halt. Samir ist nun in Sicherheit. Seit drei Monaten lebt er in einer Wohngruppe des Waldhauses in Hildrizhausen. Er ist einer von zehn unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, welche die Jugendhilfeeinrichtung in ihren Wohngruppen in Herrenberg, Leonberg und Hildrizhausen betreut.

Jede Woche muss das Waldhaus Anfragen abweisen

Doch die Plätze reichen bei Weitem nicht aus. „Wir rechnen dieses Jahr mit mindestens 50 minderjährigen Flüchtlingen, die wir unterbringen müssen“, sagt Alfred Schmid, der Sozialdezernent des Kreises. Für Jugendliche, die ohne Eltern nach Deutschland kommen, gelten nicht die Asyl-, sondern die Jugendhilfegesetze. Sie dürfen nicht abgeschoben werden, und sie haben Anspruch auf die Fürsorge des Jugendamts. Dieses muss einen Vormund bestellen und die Jugendlichen angemessen unterbringen. Nicht in einem Flüchtlingswohnheim, wo sie ohne Schutz eines verantwortlichen Erwachsenen wären, sondern in einer Jugendhilfeeinrichtung oder bei einer Pflegefamilie. „Bei uns im Landkreis mangelt es sowieso an Plätzen für Jugendliche“, sagt Hans Artschwager, der Geschäftsführer des Waldhauses. „200 Jugendliche müssen stationär untergebracht werden. Für sie stehen nur 90 Plätze zur Verfügung. Jetzt kommen noch mindestens 50 Flüchtlinge dazu.“ Schon jetzt müsse er jede Woche Anfragen von Jugendämtern aus Nachbarkreisen abweisen.

Auch im Kreis Böblingen sei man auf diese Situation nicht vorbereitet, sagt Artschwager. Das aber ist kein exklusives Böblinger Problem. Das Thema der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge steht zurzeit auf fast allen Tagesordnungen der Kreistage in der Region. In Esslingen etwa waren bis Mitte April dieses Jahres bereits 41 Minderjährige in der Obhut des Jugendamts, im gesamten vergangenen Jahr waren es 36 gewesen.

Der Böblinger Sozialdezernent Schmid wehrt sich gegen den Vorwurf, die Kreisverwaltung hätte früher reagieren müssen. „Das ist eine neue Situation für uns.“ Zum einen würden die Flüchtlingszahlen dramatisch steigen. „Statt wie geplant 30 000 Menschen muss Baden-Württemberg dieses Jahr doppelt so viele Flüchtlinge aufnehmen.“ Zudem wären Minderjährige ohne Begleitung bisher stets dort aufgenommen worden, wo sie aufgegriffen wurden. „Das war zumeist in den Großstädten. Wir hatten kaum Minderjährige ohne Erziehungsberechtigte.“ Doch nun hat das Land die Verteilung der unbegleiteten Jugendlichen neu geregelt. „Sie sollen gleichmäßiger in den Kreisen untergebracht werden.“

Das Waldhaus will deshalb seine Einrichtung ausbauen. „Wir könnten sofort zehn Minderjährige aufnehmen. Doch es hakt an der Bürokratie“, klagt Artschwager. Er braucht Baugenehmigungen, um die Häuser zu erweitern. Und er benötigt eine Betriebserlaubnis des Landesjugendamts. „Das sind Verfahren, die dauern Monate.“

Samir vermisst seine Familie

Samir fühlt sich wohl in seiner neuen Umgebung. Idyllisch am Waldrand liegt die Einrichtung für Jungen. Weit weg vom Krieg und Chaos. Der 15-Jährige besucht eine Integrationsklasse der Böblinger Theodor-Heuss-Schule, hat schon schon ein wenig Deutsch gelernt. Mit einem Mischmasch aus englischen und deutschen Vokabeln verständigt er sich mit den sieben anderen Jungs seiner Wohngruppe. „Hier ist es gut“, sagt er. Aber er vermisst seine Familie: die Eltern und die drei Brüder, sorgt sich um sie. Über soziale Netzwerke ist er im ständigen Kontakt mit ihnen. „Sie leben in Angst vor Granaten und Scharfschützen, verlassen kaum mehr das Haus.“

Vorsichtig und zurückhaltend ist Samir, gibt nur wenig von sich preis. Das sei typisch für die jungen Flüchtlinge, sagt Michael Weinmann, im Waldhaus zuständig für die stationären Gruppen. „Die Jugendlichen brauchen Zeit, um zur Ruhe zu kommen.“ Erst nach drei bis sechs Monaten würden sie sich langsam öffnen. „Dann kommt raus, welche Probleme sie haben. Manche sind traumatisiert, haben Schreckliches im Krieg erlebt, manche haben ihre gesamte Familie verloren.“ Andererseits seien viele der jungen Flüchtlinge selbstständiger als ihre deutschen Altersgenossen. „Sie haben sich monate- oder gar jahrelang allein durchgeschlagen.“

Deshalb brauche man ein besonderes Konzept zur Betreuung dieser jungen Leute, sagt der Sozialdezernent. „Daran arbeiten wir gemeinsam mit den Jugendhilfeträgern im Kreis.“ Neben dem Waldhaus sind das die Stiftung Jugendhilfe aktiv und der Böblinger Verein für Jugendhilfe. „Wir hoffen, dass auch diese ihr Angebot ausbauen.“ Parallel dazu suche man auch Pflegefamilien. „Wir denken da etwa an Ehrenamtliche aus der Flüchtlingshilfe. Aber auch an Migrantenfamilien, die einen ähnlichen kulturellen Hintergrund haben.“