Auf dem Evangelischen Kirchentag erhalten die Korntaler Brüdergemeinde und die Missbrauchsopfer vor allem bei einer Podiumsdiskussion Impulse für den Umgang mit ihrer gemeinsamen Geschichte.

Stuttgart - Deutlicher als es die Referentin Kirsten Fehrs am Samstag auf dem Kirchentag formulierte, hätte man es weder der evangelischen Brüdergemeinde noch den Korntaler Missbrauchsopfern ins Stammbuch schreiben können: „Der Aufarbeitungsprozess ist niemals beendet.“ Denn den Betroffenen sei es wichtig, „dass die Institution wach wird und bleibt“, sagte die Hamburger Bischöfin. Dafür sei es aber nötig zu lernen und „durch den Schmerz hindurchzugehen“.

 

Fehrs nahm ebenso wie das ehemalige Korntaler Heimkind Detlev Zander und Johannes-Wilhelm Rörig, der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, mit weiteren Gästen an einer Podiumsdiskussion in der Schwabenlandhalle in Fellbach teil. Unter dem Titel „Aus der Missbrauchsdebatte klug geworden?“ berichtete sie eingangs von der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der Nordkirche. Nur durch die präzise Wahrnehmung des Geschehenen sei eine Aufarbeitung möglich, sagte Fehrs. Sie habe Respekt vor jenen Menschen, die angesichts der Verfehlungen dennoch Vertrauen in die Vertreter der Kirche gefasst hätten. „Sie schenken es, damit wir lernen.“

Fehrs skizzierte die Hamburger Aufarbeitung in wenigen Worten: „Aufarbeiten heißt nicht abarbeiten.“ Vor allem den Korntalern zeigte sie damit auf, dass ihr Streit, ihre Zweifel und Diskussionen nicht einmalig sind. Denn natürlich gehe der Prozess auch mit der Zerstörung des Selbstbildes einher, erklärte Fehrs. Die Vertreter der Brüdergemeinde und der Betroffenen hörten das ebenso wie mancher Korntaler Bürger unter den Zuhören. Die Korntaler interessieren sich zunehmend für das Geschehen, ohne den Prozess immer auch gutzuheißen. Noch immer gibt es Bürger, die die Vorfälle leugnen.

Noch steht die Konfrontation aber bevor, wenn die einstigen Mitarbeiter befragt werden und sich mehr Bürger mit dem Thema befassen. Auch sie hatte die Landshuter Wissenschaftlerin Mechthild Wolff angesprochen, als sie vor wenigen Wochen in einem Interview in dieser Zeitung erklärte, niemand könne behaupten, nicht von den massiven Vorwürfen betroffen zu sein. Wolff leitet die Aufarbeitung in Korntal. Detlev Zander sieht die Aufarbeitung der Fälle, die sich von den 1950er Jahren bis in die jüngste Vergangenheit in den Einrichtungen der Brüdergemeinde in Korntal hinzogen, „auf einem guten Weg“.

Fehrs legte am Samstag aber auch dar, dass die Nordkirche den Betroffenen unbürokratisch geholfen habe, „in einem Maß, das weit über die am Runden Tisch der Bundesregierung festgelegten Hilfen für Betroffene von Missbrauchsfällen hinausgeht“. Laut der Sprecherin der Nordkirche wurden bisher mehrere Hunderttausend Euro bezahlt – als „Unterstützungsleistung in Anerkennung des Leides der Betroffenen“. Das Geld könne auch der Finanzierung von Therapien dienen. Die Nordkirche hat den Betroffenen also nicht nur mit Sach-, sondern auch mit Geldleistungen geholfen. Das ist in Korntal nach wie vor strittig, obwohl der Missbrauchsbeauftragte Rörig der Brüdergemeinde inzwischen grundsätzlich attestiert, „konstruktiv nach Wegen zu suchen, die Mittel bereitzustellen“, ohne zugleich ihre Gemeinnützigkeit aufs Spiel zu setzen. Die Brüdergemeinde hatte bisher betont, nur materielle Unterstützung leisten zu wollen.

Dass sich die Betroffenen in Korntal in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext befinden, hatte Rörig in der Diskussion skizziert. Scharf kritisierte er Bund, Länder und Kommunen: Das Opferentschädigungsgesetz sei noch nicht reformiert, in einen nationalen Hilfefonds hätten erst zwei von 16 Ländern eingezahlt. „Sie dürfen sich nicht der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung entziehen.“ Die Korntaler Betroffenen wiederum wurden auf dem Kirchentag „vom Opfer zum Akteur“, beobachtete die Aufarbeitungsbeauftragte Wolff.

Während bei der Diskussion viel Grundsätzliches angesprochen wurde, waren am Stand der Interessengemeinschaft (IG) Heimopfer im Neckarpark die konkreten Erlebnisse Thema. Auch der Vorsteher der Brüdergemeinde, Klaus Andersen, war im Gespräch mit den Betroffenen. Bei ihren Unterstützern, der Opferhilfe, stößt diese Annäherung aber auf Ablehnung, sie spricht von einem „Schmusekurs“.

Der Landesbischof Otfried July war am Stand der Heimopfer, Rörig sprach mit ihnen, ebenso seine Amtsvorgängerin Christine Bergmann, nachdem sie die Fellbacher Diskussion geleitet hatte. Nun ist es an den Beteiligten zu entscheiden, welche Konsequenzen sie aus dem Kirchentag ziehen.

Schwerer Stand für die Bewältigung

Es war ein vergleichsweise kleiner Stand der Interessengemeinschaft (IG) Heimopfer auf dem Kirchentag – und doch hat er großen Ärger verursacht, der bis zum vorläufigen Bruch mit der Opferhilfe (OH) geführt hat. Denn viele der Opferhilfe-Vertreter, einem Zusammenschluss von Korntaler Bürgern, wollten nicht, dass dort die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle im Kinderheim der Korntaler Brüdergemeinde vorgestellt wird. „Die Opfer kommen nicht zu Wort. Das Ganze ist jetzt eine Inszenierung, weil Korntal ein Beispiel werden soll für eine gelungene Aufarbeitung“, befürchtet etwa Ludwig Pätzold. Der IG Heimopfer-Sprecher Detlev Zander weist das zurück, es sei nach wie vor ihr Stand, an dem sie sich ausreichend hätten präsentieren können.

Letztlich lag weder Informationsmaterial der Opferhilfe über Tatorte und – anonymisiert – Täter aus, noch hingen Plakate. Ebenso wenig waren Vertreter am Stand, nachdem Pätzold mit der Begründung abgesagt wurde, die Opferhilfe habe bewusst falsche Informationen zur Standpräsentation an eine Großspenderin weitergegeben. Zander hatte auf Anfrage zunächst erklärt, die Absage sei von dem OH-Mitglied ausgegangen.

Die Opferhilfe war zudem verärgert, weil sie erst kurz vor dem Kirchentag – und aus der Presse – von der geänderten Zielsetzung des Stands erfahren habe. Sie fühlte sich ausgebootet. Beim Opfertreffen Ende März sei nie von diesen Plänen gesprochen worden. Allerdings hatten sich die Heimopfer beim jüngsten Treffen an Pfingsten mehrheitlich für die neue Zielsetzung ausgesprochen.

Tatsächlich war ursprünglich ein Ziel des Stands gewesen, „der Brüdergemeinde eins auszuwischen“, wie es die IG-Sprecherin Martina Poferl damals formulierte. Doch die Aufarbeitung sei fortgeschritten, man habe zeigen wollen, dass sich die Heimopfer weiterentwickeln. Dazu gehöre auch, dass Vertreter der Brüdergemeinde Gast am Stand waren.

Klärung über den weiteren Umgang der beiden Gruppen sollen die kommenden Tage bringen, wenn der Opferhilfe-Gründer Peter Meincke aus dem Urlaub zurück ist.