Detlev Zander erhebt schwere Vorwürfe im Aufarbeitungsprozess. Obwohl sich mit ihm jetzt 260 frühere Korntaler Heimkinder als Opfer von psychischer und physischer Gewalt gemeldet haben, ließen sich die Pietisten nicht richtig auf ihre Historie ein.

Herr Zander, wie geht es Ihnen?
Es geht, denn ich bin sehr verärgert über die Brüdergemeinde
Vor einem Jahr sind Sie als erster an die Öffentlichkeit gegangen. Inzwischen werden Begriffe wie sexueller Missbrauch und Demütigung in mehreren Fällen mit Korntal in Verbindung gebracht. Dabei beginnt die Aufarbeitung erst. Im Oktober sollen weitere Bausteine des Projekts vorgestellt werden.
Ja. Aber es ist immer noch ein Kampf, man kämpft und kämpft und kämpft. Letztlich habe ich das Gefühl, die Brüdergemeinde nimmt uns nicht ernst.
Sie sprechen die Arbeit in der Steuerungsgruppe an. Wieso haben Sie den Eindruck, nicht ernst genommen zu werden? Es handelt sich schließlich um ein paritätisch besetztes Gremium unter der Leitung der Wissenschaftlerin Mechthild Wolff.
Wir, die Betroffenen, sind aber nicht gleichberechtigt. Wir werden nicht informiert. Wir haben in der Steuerungsgruppe beschlossen, Aktivitäten in Bezug auf die Aufarbeitung abzusprechen. Wenn ich eine Anfrage an die Brüdergemeinde stelle, bekomme ich keine Antwort. Die bekommt Frau Wolff. Das ärgert mich.
Sie haben die Situation doch aber sicher intern angesprochen.
Ja, aber es ändert sich ja nichts. Die Brüdergemeinde spricht sich intern ab, mit der Diakonie, mit der Landeskirche – und wir bekommen in der Steuerungsgruppe dann irgendetwas vorgelegt. Wir wollen mitreden. Ich bin nicht dazu da, irgendwelche Dinge nur abzunicken. Die Zeit ist vorbei.
Aber die Brüdergemeinde mag zwar zu Beginn etwas zögerlich agiert haben, aber das hat sich doch geändert, oder nicht?
Natürlich macht sie es geschickt, wenn sie Persönlichkeiten einlädt, wie zuletzt Maria Loheide von der Diakonie Deutschland, und nicht den Missbrauchsskandal an erster Stelle setzt, sondern die Altenpflege und die Flüchtlingshilfe. Die Brüdergemeinde suggeriert nach außen „Leute, was wollt Ihr? Wir tun doch was.“ Aber nach innen informiert sie nicht richtig, auf der Homepage aktualisiert sie die Daten beispielsweise nicht. Sie stellt nach außen was dar, ist aktiv, damit die Politik sowie die Landeskirche und die Diakonie zufrieden sind. Damit ist sie aus den Schlagzeilen. Über die Geschädigten wird aber fast nicht gesprochen. Wenn ich den Bürgermeister anschreibe, erhalte ich entweder die Antwort, er habe keine Zeit oder er wolle sich in den Dialog nicht einmischen. Aber wenn Prominenz da ist, wenn Frau Loheide kommt, kommt er auch. Nach außen hin wird das eine Bild vermittelt, nach innen ein anderes.
Wie nehmen Sie denn die Bereitschaft der Brüdergemeinde wahr, sich mit ihrer Historie auseinanderzusetzen?
Unterschiedlich. Natürlich macht die Brüdergemeinde etwas, aber ich habe das Gefühl, dass sie in der Thematik immer noch nicht angekommen ist. Sie setzt sich gar nicht richtig mit der Vergangenheit auseinander. Es gibt bei ihnen immer noch Leute, die daran zweifeln, ob das wirklich passiert ist, schließlich könne das doch alles gar nicht sein. Dabei haben sich inzwischen 260 Personen gemeldet.
Sie sprechen von 260 Opfern psychischer und physischer Gewalt, eine Frau soll gar geschwängert worden sein.
Ich habe mit ihr gesprochen. Wir haben in der Steuerungsgruppe besprochen, dass es aufgeklärt wird und geprüft wird, den Täter rechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Aber wir bekommen keine Informationen.
Diese Frau hat Ihnen ihre Erlebnisse berichtet. Sie selbst gingen mit dem, was Sie erlitten haben als erster an die Öffentlichkeit.
Ich habe 13 Jahre im Hoffmannhaus gelebt und bin missbraucht worden, mehrfach, im Fahrradkeller, durch den Hausmeister. Ich verbinde Korntal aber auch mit Wilhelmsdorf. Das war ein Ferienlager, wir haben es Arbeitslager genannt, da wir dort jeden Tag auf die Baustelle mussten, weil der Heimleiter ein Haus gebaut hat. Das waren für uns keine Ferien in dem Sinn, das war wieder ein geschlossener Kosmos, in dem man uns benutzen konnte. Wir dürfen die Aufarbeitung deshalb nicht nur auf den Missbrauch reduzieren. Wir müssen auch fragen, wer damals Verantwortung hatte.
Sie wollen es nicht dabei belassen, die Historie aufzuarbeiten, etwa zu klären, warum die Heimkinder im Großen Betsaal stets in der letzten Reihe Platz nehmen mussten.
Wir waren schlecht angesehen in der Gemeinde. Wir sind schon aufgefallen mit der Kleidung, in die Kinderkirche durften wir nicht. Doch die Wissenschaft interessiert vielleicht die Brüdergemeinde. Viele Betroffene können damit aber nichts anfangen. Andere Teilprojekte der Aufarbeitung wie Anerkennung von Leid und Erinnerungskultur kamen von uns. Jetzt befürchte ich, dass der wissenschaftliche Teil in den Vordergrund rückt, und die anderen Teilbereiche in den Hintergrund rücken.
Die württembergische Landeskirche hat inzwischen einen entsprechenden Beschluss gefasst zu Entschädigungszahlungen.
Sie geht aber sehr zögerlich mit dem Thema um. Ich möchte, dass sich die Landeskirche und die Brüdergemeinde klar positionieren. Dazu gehört auch, dass die Brüdergemeinde eben in bezug auf die Entschädigungen nicht nur wie bisher Sachleistungen anbietet. Sie sagt ja bisher, sie werde kein Geld auf ein Konto bezahlen. Das wird es mit mir nicht geben. Die Landeskirche wiederum kann nicht einerseits darauf verweisen, dass die Brüdergemeinde eigenständig sei, während die Brüdergemeinde auf die Landeskirche verweist, weil sie mit ihr vertraglich verbunden sei.
Zurück nach Korntal. Der Aufarbeitungsprozess ist nicht konfliktfrei, immer wieder ist von Auseinandersetzungen die Rede.
Was meine Sie wie oft es in der Steuerungsgruppe schon Streit gegeben hat! Wenn man keinen Druck macht, passiert nicht viel. Ich habe oft das Gefühl, dass uns Betroffenen gegenüber nicht mit offenen Karten gespielt wird. Wir kommen uns oft vor, das klingt jetzt hart, als die dummen Heimkinder, die Nestbeschmutzer. Ein offenes, ehrliches Gespräch ist nicht möglich. Es geht nicht an, dass wir eine Alibifunktion haben: Die dummen Heimkinder, sie haben keine Bildung, wir setzen sie mit rein in die Steuerungsgruppe, damit es heißt, die Brüdergemeinde mache ein großes Projekt - aber in die wichtigen Entscheidungen werden wir nicht einbezogen.
Die Brüdergemeinde finanziert das Projekt.
Uns wird immer gesagt, wir sollen schweigen, weil etwas noch nicht spruchreif ist. Die Brüdergemeinde selbst hat aber so viele Gremien, da wissen sehr viele Bescheid und wir sollen den Mund halten. Ich habe immer gesagt, wir müssen informieren, die Betroffenen scharren mit den Hufen, sie sagen, da kommt ja gar nichts, sie wollen, dass etwas geschieht. Ich bin ihnen doch verantwortlich. Ich glaube, dass die Brüdergemeinde für sich aufarbeitet und Informationen einholt, aber uns nichts sagt.
Die Aufarbeitung ist auf Monate, wenn nicht Jahre angelegt. Was gibt Ihnen die Kraft, das durchzustehen?
Ich möchte, dass die Heimgeschichte aufgeklärt wird. Das gibt mir die Kraft.
Obwohl Sie zwischenzeitlich von Ihresgleichen, ehemaligen Heimkindern, in den sozialen Medien massiv attackiert werden.
Ja. Ich hatte eine schwere Krise, aber ich habe gelernt, damit umzugehen. Wer an der Front ist, kriegt auch mal eine drauf, das ist eben so. Aber es war ein Lernprozess.
Sie kommen immer wieder nach Korntal, an den Ort des Geschehens zurück für den Aufarbeitungsprozess…
… Korntal ist ja auch meine Heimat.
Gibt es für Sie auch einen schönen Ort in der Stadt?
Ja, eine Sitzbank im Seewald. Da saß ich früher oft, da gehe ich auch heute gerne hin.