Die Wissenschaftlerin Ursula Enders reist aus Köln an, um ehemalige Korntaler Heimkinder zu unterstützen

Korntal-Münchingen - Manchmal, so scheint es, fehlen Detlev Zander die Worte. „Es ist einfach unglaublich“, sagt er dann. Mehrfach war der Mann, der den sexuellen Missbrauch in den Kinderheimen der evangelischen Brüdergemeinde in Korntal öffentlich gemacht hat, in den vergangenen Wochen in dieser Situation: Der Korntal-Münchinger Bürgermeister lehnt ein Gespräch mit den Betroffenen ab, ebenso der Bischof der evangelischen Landeskirche Württembergs. Und auch die Brüdergemeinde selbst schweigt. Stattdessen sprechen die Juristen.

 

Gestritten wird unter anderem darüber, wer für die Infrastrukturkosten aufkommt: Die Betroffenen haben ein Büro gemietet. Die Kosten trug die Brüdergemeinde, je-denfalls so lange, wie der Missbrauchsskandal unter der Leitung von Mechthild Wolff aufgearbeitet werden sollte. Seitdem die Betroffenen der Wissenschaftlerin zu Jahresbeginn das Vertrauen entzogen haben – sie hatte sich ihrer Meinung zu sehr auf die Seite der Brüdergemeinde gestellt –, stagniert die Aufarbeitung.

Bei einem neuerlichen Opfertreffen am Samstag stellte Zander unter anderem den inzwischen gegründeten Unterstützerverein „Netzwerk Betroffenenforum“ vor. Dieser habe inzwischen 58 Mitglieder. Zudem hätten Großspender der Brüdergemeinde auch ihnen Unterstützung zugesagt. Während sie einerseits also Hilfe erhielten, blieben andererseits bei der Stadtverwaltung und der Landeskirche die Türen verschlossen. Der Bürgermeister Joachim Wolf lässt erklären, „keinen konstruktiven Beitrag“ bei der Aufarbeitung leisten zu können, weil sowohl die „notwendige Kompetenz als auch das Hintergrundwissen in diesem sehr komplexen und vielschichtigen Sachverhalt“ fehlten. Der Landesbischof Frank Otfried July wiederum verweist darauf, dass die Brüdergemeinde selbstständig sei. Dabei fordere er nur ein, was der Brüdergemeinde auch zuteil werde, sagt Zander: ein Gespräch, in dem die Betroffenen ihre Sicht der Dinge darlegen können.

Brüdergemeinde orientiert sich neu

Auch die Brüdergemeinde reagiere – wenn überhaupt – mit Ablehnung, fasst Zander die vergangenen Wochen zusammen. „Die Ignoranz der Brüdergemeinde ist furchtbar.“ Klaus Andersen, der weltliche Vorsteher der Brüdergemeinde, verweist indes auf eine „Neu-Orientierungsphase“, die voraussichtlich „mit dem Monat Mai abgeschlossen“ sein werde. Gleichzeitig bekräftigt er aber das Bekenntnis zur Aufarbeitung, diese werde weitergehen: „Dazu gibt es aus unserer Sicht keine Alternative. Über sexuellen Missbrauch kann nicht geschwiegen werden.“ Die Aufklärung und Offenlegung stünden im Vordergrund. „Das sind die Forderungen und Erwartungen von allen Seiten und somit der offensichtlich gemeinsame Nenner für die Fortsetzung.“ Damit dies gelinge, scheine es „notwendig, eine neutrale Person, einen Mediator einzubinden“. Auch bestehe weiterhin die Bereitschaft zur Zahlung von Anerkennungsleistungen. Die Brüdergemeinde hatte angekündigt, Betroffenen je bis zu 5000 Euro zu bezahlen. Damit lehnt sie sich an die Regelungen innerhalb der evangelischen Landeskirche Württembergs an.

Strukturen der Landeskirche in der Kritik

Just an den Strukturen innerhalb der Landeskirche setzt die Kritik von Ursula Enders an. Die Wissenschaftlerin und Autorin leitet „Zartbitter“ in Köln, eine Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen. Sie untersucht vor allem sexualisierte Gewalt in Institutionen und war unter anderem Mitglied der Untersuchungskommission der Missbrauchsfälle in der Evangelisch-Lutherischen Nordkirche.

Beim Opfertreffen am Samstag, zu dem sie auf Einladung der Betroffenen gekommen war, legte sie anhand ihrer Erfahrung dar, dass das Verhalten der Brüdergemeinde nicht ungewöhnlich für das Vorgehen einer Institution in dieser Situation sei. „Es gilt die Macht des Stärkeren, und das ist der Wortgewaltige. Das ist die Gefahr.“ Gleichwohl wähnte sie sich bei den Schilderungen der Betroffenen durchaus in einer Situation, als hätte es die bundesweiten Diskussionen über sexuellen Missbrauch und dessen Aufarbeitung nie gegeben. Das Verhalten der Brüdergemeinde sei eine einzige Machtdemonstration. „Es ist nicht hinnehmbar im Jahr 2016, wie die Institution mit den Betroffenen umgeht.“ Die „Inszenierung der Brüdergemeinde habe durchaus „die Qualität von RTL“.

Enders erläuterte, dass die Struktur der evangelischen Kirche in Deutschland das Verhalten der Brüdergemeinde erst ermögliche. Denn anders als die katholische Kirche sei die evangelische Kirche nicht klar hierarchisch gegliedert: „Deshalb wird viel zerredet.“ Und anders als die katholische Kirche haben die Protestanten auch keinen Missbrauchsbeauftragten: „Es gibt nicht, wie in der katholischen Kirche, das Gegenüber, mit dem man diskutieren kann. Das Gegenüber sind die Repräsentanten der Institutionen, in denen der Missbrauch stattgefunden hat.“ Die Betroffenen seien deshalb schutzlos denen ausgeliefert, die die Interessen der Institutionen vertreten.

Chronik der Ereignisse

Der Beginn
Detlev Zander hat von 1963 bis 1977 in einem Korntaler Kinderheim gelebt. Im Frühjahr 2014 berichtete er als Erster öffentlich von sexuellem Missbrauch, Prügelorgien und Zwangsarbeit in den Einrichtungen der evangelischen Brüdergemeinde; andere Betroffene folgten seinem Beispiel.

Die Entwicklung
Zander scheiterte mit seiner hohen Geldforderung an die Brüdergemeinde, weil ihm für ein Gerichtsprozess keine Prozesskostenhilfe gewährt wurde. Gleichwohl stellte sich die Brüdergemeinde seiner Forderung, die Vorfälle aufzuarbeiten. Das Projekt unter der Leitung einer Wissenschaftlerin scheiterte aber.

Der aktuelle Stand
Die Betroffenen haben Spenden gesammelt, um sich juristischen Beistand zu holen. Derzeit kommunizieren die Juristen beider Parteien miteinander. Wie es weitergeht, ist offen.