Um die Vorfälle von psychischer und physischer Gewalt in Korntaler Kinderheimen aufzuarbeiten, ist jetzt eine Gruppe bundesweit aktiver Wissenschaftler am Start. Zugleich muss die Leiterin des Aufarbeitungsprozesses nach wie vor Emotionen kanalisieren.

An der Aufarbeitung der Missbrauchsvorfälle in Heimen der Evangelischen Brüdergemeinde sind nun auch Wissenschaftler aus Berlin, Köln und Landshut beteiligt. Betroffene werden dabei befragt, die Fälle rechtlich bewertet und das institutionelle Versagen geprüft. Mechthild Wolff leitet das Projekt.
Frau Wolff, bei einem Workshop am Samstag wurden die Wissenschaftler vorgestellt. Ist das auch der Start sachlicher Diskussion?
Den Betroffenen ist das wissenschaftliche Teilprojekt zur Aufarbeitung von Unrechtsfällen in Korntal präsentiert worden. Wir haben zur Diskussion gestellt, ob und in welcher Weise das Forschungsprojekt laufen kann. Das war ein wichtiger Schritt der Versachlichung, auch im Sinne der Betroffenen. Realistisch wird es aber so sein, dass Sachlichkeit und Emotionalität immer nebeneinanderstehen werden.
Die Emotionen müssen kanalisiert werden.
Mediation wäre eine Möglichkeit, aber dann muss man dazu auch bereit sein. Die Schlichtung müssen die Betroffenen untereinander leisten. Dafür müssen sie Hilfe erhalten, denn wie wir nun merken, ist die Selbstorganistation unter den Betroffenen nicht so leicht. Die Brüdergemeinde hat bei Bedarf die Finanzierung von Mediation und Supervision zugesagt.
Die Betroffenen sollen ihren Streit unter sich austragen. Vertreter der Opferhilfe halten Ihnen aber vor, einseitig für Detlev Zander Position bezogen zu haben.
Die Opferhilfe ist nicht mein Gesprächspartner, weil es sich da nicht um primär Betroffene handelt. Richtig ist, dass ich für die Betroffenen Position bezogen habe. Ich möchte, dass sie arbeitsfähig bleiben. Sie müssen untereinander eine Einigung finden. Dafür bekommen sie die Hilfe, die sie benötigen.
Ihnen wird vorgeworfen, die demokratischen Strukturen in der Steuerungsgruppe nicht zu wahren. Stellvertretende Betroffenenvertreter beklagen, nicht informiert zu werden.
Die Einhaltung demokratischer Strukturen ist grundlegend für die Aufarbeitung, nur so kann Vertrauen unter den Aktiven entstehen. In mehreren Gesprächen mit denjenigen, die mir hierzu einen Vorwurf machen, habe ich mich der Kritik gestellt. Ich nehme dies sehr ernst und werde künftig noch konsequenter dafür Sorge tragen.
Misstrauen und Befindlichkeiten durchkreuzen immer wieder die sachliche Debatte.
Ich halte es für wichtig, dass sich die Betroffenen nicht in Kämpfe untereinander verwickeln, die ihre Position schwächen. Alle müssen ihre Interessen in der Steuerungsgruppe oder einem anderen Beteiligungsgremium bestmöglich vertreten sehen. Weil es die konsequente Beteiligung der Betroffenen, die wir versuchen, nirgendwo sonst gibt, gibt es kein Muster für den Aufarbeitungsprozess. Das ist die Herausforderung und ein Lernprozess für alle.
Die Betroffenen sind in der Steuerungsgruppe vertreten – nun auch im Forschungsprojekt. Oder werden sie dort nur gebraucht, um ihre Geschichte zu erzählen?
Nein, auch jetzt werden sie beteiligt. Es wird Workshops geben, dort werden sie informiert, und sie können sich einbringen. Man wird sicher auch hier Fehler machen, wir lernen ja. Aber man muss dann auch wieder zusammenkommen und über Lösungen diskutieren. Wir dürfen das Beteiligungsprinzip nicht aufgeben.
Lassen sich die Betroffenen darauf ein? Haben Sie die Menschen am Samstag erreicht?
Ja. Etwa 35 Personen haben teilgenommen. Es war größtenteils eine sehr konstruktive und sachliche Diskussion. Die Betroffenen bekommen nun nochmals alle Informationen und können Anregungen geben, die auch berücksichtigt werden.
35 Teilnehmer, ist das nicht wenig im Bezug auf die Zahl der Fälle, die bekannt sind?
Wir wissen ja noch gar nichts sicher über das Ausmaß, ich möchte das daher nicht bewerten. 35 Personen, die sich Gedanken gemacht haben über das wissenschaftliche Projekt, das finde ich viele. Ich habe großen Respekt vor den Menschen, die sich diesem Prozess stellen.
Was qualifiziert die beteiligten Wissenschaftler für ihre Aufgabe?
Ihre beruflichen Erfahrungen und die Bereitschaft, gemeinsam etwas für die Sache zu machen. Sie wissen, um was es geht.
Auch eine Internetseite soll als Informationsplattform zur Versachlichung der Diskussionen beitragen.
Die Homepage soll in zwei bis drei Wochen online gehen. Die Ideen wurden erarbeitet von der Juristin Bettina Janssen, sie war Leiterin des Büros für Fragen sexuellen Missbrauchs der Deutschen Bischofskonferenz. Nach dem Gespräch der Steuerungsgruppe am Freitag werden wir die Seite nochmals überarbeiten. Bettina Janssen wird die Internetseite auch betreuen.
Demnächst soll zudem die telefonische Hotline geschaltet werden. Wann ist es so weit?
Wir legen los, wenn der Beginn des wissenschaftlichen Projekts feststeht. Der Forschungsantrag wird auf Basis der Rückmeldung im Workshop überarbeitet.
In der Steuerungsgruppe hat sich am Samstag auch ein Stiftungsrat vorgestellt.
Die Brüdergemeinde sucht eine Lösung, wie die freiwilligen Hilfeleistungen Betroffene erreichen können. Über eine Stiftung oder einen Fonds könnte das gelingen. Der Stiftungsratsvorsitzende der Landesstiftung Opferschutz war zu Gast in der Steuerungsgruppe und hat über die Möglichkeiten von Entschädigungszahlungen informiert. Die Landesstiftung ist keine Option, weil die Antragsverfahren zu aufwendig sind. Konkretisiert wurde in der Diskussion, wie ein solches Vergabeverfahren viel niederschwelliger gestaltet werden kann.
Die Suche beginnt ganz von vorn?
Nein, nicht ganz von vorn. Es werden weitere Möglichkeiten geprüft, auch verbandliche Lösungen über das Diakonische Werk Württemberg. Um das zu diskutieren, soll ein Verantwortlicher in die Steuerungsgruppe eingeladen werden.
Parallel dazu steht ja die strafrechtliche Verfolgung nicht verjährter Fälle im Raum.
Das liegt in der Verantwortung der Brüdergemeinde. Aber klar ist, dass weitere solcher Fälle auch im Rahmen des wissenschaftlichen Projekts über die Erzählungen offenbar werden könnten.
Sitzt die Brüdergemeinde die Vorwürfe aus?
Sie ist nicht untätig. Es liegt nicht in meiner Verantwortung, ob sie öffentlich Position bezieht. Ich nehme viel Dialog mit Betroffenen und nach innen mit ihren ehemaligen Mitarbeitern wahr – zumal es da viel Aufruhr gibt. Es gibt viele Hausaufgaben zu machen, und diese erledigt sie. Täterorganisationen stehen mit dem Rücken zur Wand. Das muss man auch sehen.
Wann ist die Aufarbeitung beendet?
Aufarbeitung endet nie. Es ist ja nichts, was man zwischen zwei Buchdeckel packt. Aber in zwei bis zweieinhalb Jahren haben wir sicher viele Meilensteine genommen.