Personalnot, Überstunden, anstrengende Klienten – da können Pflegekräfte mal die Nerven verlieren. Doch Gewalt in der Pflege wird nur selten bestraft. Umso ungewöhnlicher ist ein Fall, der in Bremen verhandelt wurde.

Bremen - Personalnot, Überstunden, anstrengende Klienten – da können Pflegekräfte mal die Nerven verlieren. Doch Gewalt in der Pflege wird nur selten bestraft, weil sich Übergriffe so schwer beweisen lassen. Umso ungewöhnlicher ist ein Fall, der am Mittwoch vor dem Amtsgericht Bremen verhandelt wurde.

 

Eine Altenpflegerin hatte voriges Jahr eine damals 84-Jährige so ruppig behandelt, dass sie von deren Söhnen angezeigt wurde. Die Seniorin sei „ohne jeden Respekt wie ein Stückgut behandelt“ worden, sagte ein Kriminaloberkommissar vor Gericht aus. Leugnen wäre zwecklos, denn es gibt einen Videobeweis der Misshandlungen. Die Söhne hatten in Zimmer 212 heimlich eine Kamera aufgebaut.

An jenem Abend, so zeigt es das von Radio Bremen publik gemachte Video, macht die 42-jährige Pflegekraft die Demenzkranke nachtfertig. Sie zerrt sie an der Unterhose übers Bett, herrscht sie an: „Nimm doch mal die Flossen weg hier!“ Als die auf dem Bett sitzende Seniorin ins Schwanken gerät, wird sie an den Haaren gezogen. Dazu der Kommentar: „Sitzen bleiben, Menschenskinder, ey! Jedes Mal dasselbe.“ Kläglich protestiert die Seniorin: „Jedes Mal hauen Sie mich!“ Darauf die barsche Antwort: „Erzählen Sie noch ein paar Märchen. Jetzt reicht’s aber mal.“

Ein Schlag mit der flachen Hand

Als endlich das Nachtzeug übergezogen ist, stößt die Pflegerin die Frau mit der flachen Hand vor die Stirn, um sie in Liegeposition zu bringen. „Das sah aus wie ein Judogriff – Kampfsport“, kommentierte einer der Söhne, 45, als Zeuge. Sein älterer Bruder, 58, glaubt, die Pflegerin habe schwere Verletzungen in Kauf genommen, denn die Wirbel der Seniorin seien „wie ein Schwamm“ – wegen Osteoporose.

Aber ist das alles bereits strafbar? Die Staatsanwaltschaft meint „ja“ und hat Anklage erhoben – zunächst wegen Misshandlung Schutzbefohlener, Höchststrafe: zehn Jahre. Das Amtsgericht ließ allerdings nur den Vorwurf der einfachen Körperverletzung zu, Maximum: fünf Jahre. Denn für den gravierenderen Straftatbestand schien dem Richter das Vorgehen nicht roh genug.

Die Demente hatte schon häufiger geklagt: „Die schlägt mich immer.“ Aber die Söhne waren sich nicht sicher, ob das für eine Beschwerde reichen würde. War die gebrechliche Mutter vielleicht nur zu empfindlich? Oder wurde sie gar von Kriegserinnerungen gequält? „Wir wollten Gewissheit haben, ob da wirklich was dran ist“, sagte der Jüngere. Deshalb einigten sich die Söhne auf eine rechtlich umstrittene List: Der 45-Jährige beschaffte sich eine als Uhr getarnte Videokamera mit Bewegungsauslöser und postierte sie auf einem Beistelltisch. Gleich am ersten Abend landeten sie einen Volltreffer.

Der Richter lässt das Video abspielen

Die Prozessbeteiligten schauten sich das Video nach fünfstündiger Zeugenvernehmung an – gegen den Widerspruch der Verteidigerin. Sie hielt die Aufnahmen für illegal und nicht verwertbar. Nur als letztes Mittel könnten heimliche Aufzeichnungen erlaubt sein; zunächst hätten die Söhne die Heimleitung einschalten müssen. Die Anklagevertreterin widersprach: „Das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die Würde des Menschen wiegen allemal schwerer als das Recht am eigenen Bild.“ Und dann sei da noch das „Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit“.

So sah das auch Richter Fabian Schneider, der den Film abspielen ließ. Die Angeklagte schaute sich die Aufnahme nicht an. Überhaupt folgte sie der Verhandlung fast regungslos. Die kräftige Frau in Pulli und Jeans blickte nur einmal mit strengem Gesichtsausdruck in die Runde. Äußern wollte sie sich nur zur Person. Sie sei Altenpflegerin, aber früher „Maschinist für Energetik“ gewesen – nach „Spiegel“-Informationen im DDR-Gaskombinat Schwarze Pumpe.

Wie die Kripo ermittelte, arbeitete sie danach auf wechselnden Stellen in Westdeutschland. Schon hier fiel sie wegen ihrer ruppigen Art auf. Sie sei „absolut ungeeignet für die Pflege“ und eine „sehr schwierige und uneinsichtige Person, die sich von der Welt benachteiligt fühlte“, bekam der Ermittler zu hören. Doch immer wieder fand sie eine Stelle – selbst nach dem Vorfall in Bremen, der ihr eine sofortige Suspendierung einbrachte. Ihr befristeter Arbeitsvertrag sollte ohnehin kurz danach auslaufen, denn die Heimleitung wollte ihn wegen Beschwerden nicht verlängern.

Die Pflegerin wird verurteilt

Bei dem Prozess ging es auch um die Arbeitsbedingungen von Pflegekräften. Ihre Mandantin sei „physisch und psychisch am Ende“ gewesen, sagte die Verteidigerin, sie habe teils 13 Schichten nacheinander arbeiten müssen, „regelmäßig bis an den Rand der Erschöpfung“. Der Heimleiter bestätigte als Zeuge zumindest, dass das Personal „immer sehr knapp bemessen“ worden sei – manchmal habe es nur zwei Kräfte für 26 Bewohner gegeben. Aber immer streng nach amtlichen Vorgaben. „Das ist Pflegealltag“, sagte der Heimleiter.

Richter Schneider verurteilte die Pflegerin zu 2080 Euro Geldstrafe wegen Körperverletzung. Schwerwiegend sei die Tat nicht wegen des Haareziehens und des Schubsens an sich, sondern weil die Bewohnerin so wehrlos gewesen sei.