Mehr als 1200 Fälle von Kindesmissbrauch und Vernachlässigung hat das Stuttgarter Jugendamt im vergangenen Jahr bearbeitet. Doch das Netz beim Kinderschutz soll enger werden.

Stuttgart - Erst vor wenigen Wochen ist der kleine Tayler in Hamburg qualvoll an seinen Misshandlungen gestorben. Das einjährige Kind ist offenbar innerhalb der eigenen Familie zu Tode geschüttelt worden – und niemand hat es verhindert. Nicht alle Fälle von Kindesmisshandlung sind so extrem. Doch es werden mehr – auch in Stuttgart. „Wir bekommen mehr Meldungen von Schulen, Kindergärten und Polizei – und auch von Selbstmeldern aus der Familie“, sagt die Stuttgarter Jugendamtsmitarbeiterin Barbara Kiefl.

 

1209 Kindesmisshandlungen mit Vernachlässigung listet der Geschäftsbericht des Jugendamts für das Jahr 2014 auf. Das ist eine deutliche Steigerung zum Vorjahr, als 1097 Fälle gemeldet wurden. Für 2015 liegen noch keine Zahlen vor. Doch was bedeutet diese Entwicklung? Kiefl führt die Zunahme einerseits auf eine zunehmende Verunsicherung vieler Eltern sowie ein fehlendes familiäres Umfeld zurück. Aber sie sagt auch: „Unsere Netzwerke sind intensiver geworden.“ Und: „Alle Beteiligten sind sensibler geworden beim Erkennen der Anzeichen.“ Dies sei positiv.

Bei Stuttgarter Kindern hat das Hilfenetzwerk gegriffen

Aber nicht immer sind Misshandlungen so offensichtlich wie im Fall des dreijährigen Peter und der vierjährigen Emma (beide Namen geändert), die unter Peters gewalttätigem Vater leiden mussten – wenn der nicht gerade im geschlossenen Vollzug war. Anders als im Hamburger Fall hat bei den beiden Stuttgarter Kindern das Hilfsnetzwerk gegriffen. Emma wurde an einem Samstagnachmittag mit alten und frischen Blutergüssen im gesamten Kopfbereich in die Kinderklinik gebracht. Die Mutter hatte das Kind so gefunden, als sie vom Einkaufen kam und die Betreuung dem Partner überlassen hatte. Der behauptete, Emma sei die Treppe runtergefallen. Ärzten und Pflegern in der Klinik fiel aber auf, dass Unfallbeschreibung und Verletzungen nicht zusammenpassten – und ganz nebenbei entdeckten sie auch alte Blutergüsse am Hals und im Gesicht von Emmas Mutter.

Kinderschutzteam im Olgäle wird als Erfolgsmodell gelobt

Das Kinderschutzteam im Olgäle reagierte sofort. Es recherchierte, benachrichtigte das Jugendamt, und die Klinik erstattete bei der Kripo Anzeige wegen des Verdachts einer Kindesmisshandlung. Peters Vater war polizeibekannt. Noch am selben Tag konferierten Jugendamt, Arzt und Kinderschutzteam mit Emmas Mutter. Das Jugendamt entschied, Emma und Peter nach Entlassung aus der Klinik in Obhut zu nehmen. Bisher gebe es so ein multidisziplinäres Kinderschutzteam, bei dem Ärzte, Pflegekräfte und Sozialpädagogen zusammenarbeiten, nur im Olgäle. Kiefl wertet dessen Arbeit als Erfolgskonzept: „Wir sind dabei, die Kooperation mit den anderen Kliniken auszubauen.“

Doch Misshandlung muss nicht immer direkte Gewalt bedeuten. Auch Vernachlässigung ist eine Missachtung des Kindeswohls. Bei der Beurteilung solcher Fälle sind die Mitarbeiter des Jugendamts nicht allein auf ihr Bauchgefühl angewiesen. Man habe einen Kinderschutzbogen entwickelt, der eine Standardisierung bestimmter Auffälligkeiten ermögliche. Darin würden auch sogenannte Ankerbeispiele für Vernachlässigung genannt, berichtet Kiefl.

Nuckel mit vergrößertem Saugloch ist kein gutes Zeichen

So richten die Jugendamtsmitarbeiter bei den unter einjährigen Kindern unter anderem den Blick darauf, was diese zu trinken bekommen und in welcher Qualität – etwa, ob das Wasser abgekocht werde oder nicht. Auch Schnuller werden genau inspiziert: Stinkt der Nuckel oder hat er ein vergrößertes Saugloch? Beides sind keine guten Zeichen – weder in puncto Hygiene noch in puncto Fürsorge und Zuwendung.

Sobald eine Meldung über eine Kindeswohlgefährdung eingeht, müssen die Jugendamtsmitarbeiter einen Hausbesuch machen – so verlangt es der Gesetzgeber. Und: „Bei allen 1209 gemeldeten Fällen haben wir auch eine Risikoeinschätzung gemacht“, berichtet Kiefl. Resultat: 106 betroffene Kinder wurden in Obhut genommen. Im Vorjahr waren es noch 84 Kinder gewesen. Dass dennoch immer weniger Familien das Familiengericht bemühten, wertet man im Jugendamt als positives Zeichen. „Ich gehe davon aus, dass unsere Konzepte greifen“, sagt Kiefl. Ziel müsse sein, die Eltern dafür zu gewinnen, Unterstützung anzunehmen.

Immer mehr Familien lassen sich vom Jugendamt beraten

Dies geschehe zunehmend auch, bevor das Kind in den Brunnen gefallen sei. Als Beleg dafür wertet sie die zunehmende Zahl an Familien, die um Beratung nachgefragt hätten: Im Jahr 2004 waren es 9200, zehn Jahre später bereits 13 000. Dabei spielten auch die frühen Hilfen, die Stuttgart vor fünf Jahren eingeführt hatte, eine wichtige Rolle: So nähmen die meisten Familien mit einem Neugeborenen das Angebot eines Willkommensbesuchs an, samt Elternbegleitbuch und einem Kapuzenhandtuch mit dem Rössle drauf. Somit sei der erste Kontakt zwischen Familie und Jugendamt hergestellt. „Das ist eine wichtige Brückenfunktion“, sagt Kiefl.

Und so wendeten sich die Mütter oder Eltern etwa bei einem Schreikind oder anderen Gedeihstörungen eher an die Berater des Jugendamts als früher. Und die könnten auch ganz anschaulich helfen: „Wir machen Videoaufnahmen von Mutter und Kind – zum Beispiel bei einer Wickelsituation“, so Kiefl. Hinterher reflektiere man gemeinsam die Situation: Schaut die Mutter das Kind an? Reagiert das Kind darauf?

Eines steht für Barbara Kiefl jedenfalls fest: „Die meisten Eltern wollen ihren Kindern nicht schaden – sie sind nur überfordert.“