Wenn jede Stunde eine Geschichte erzählt, hat der Tag 24 Geschichten. Eben diese erzählen wir in einer Serie. Von 2 bis 3 Uhr lassen wir uns im Nachtbus von der Innenstadt auf die Filderebene schaukeln.

Filder - Vorweg ein Geständnis: Diese Tour gibt es gar nicht, schließlich fährt niemand von 2 bis 3 Uhr mit dem Nachtbus durch die Gegend. Außer der Busfahrer. In dieser Nacht ist das anders. Es ist ein paar Minuten vor 2 Uhr, als der Schreiber dieser Zeilen auf die Haltestelle „Steckfeld“ zuläuft. Dort sitzt bereits Birte Schaper, die Pressesprecherin der SSB, die sich trotz ehrlich und durchaus fürsorglich gemeinten Drängens im Vorfeld nicht davon abhalten ließ, eine Runde mitzufahren. „Ich geb mir die volle Dröhnung“, sagt sie und schaut die Straße runter. Von der Plieninger Garbe her sollte nun gleich der Bus der Linie N 8 anrollen. Versprochen ist zudem ein lustiger Fahrer. Stattdessen flackert erst einmal das Licht im Haltestellenhäuschen, ehe es dann vollständig erlischt.

 

Laut Plan sollte exakt zur vollen Stunde das Vehikel der Nachtschwärmer an diesem Punkt der Route halten. Der Bus ist da bereits auf dem Rückweg in Richtung Innenstadt, vermutlich leer, um am Schlossplatz das feierlaunige Volk aufzunehmen und auf die Filderebene zu karren, dann vermutlich voll, in mehrfacher Hinsicht. Nach einer Stunde sollte der Bus an der Fraubronnstraße halten, also nicht weit entfernt. Aber nach Plan läuft gleich zu Beginn gar nichts.

Es ist 2.05 Uhr, als der Bus hält. Von drinnen lächelt der Fahrer, noch ehe er per Knopfdruck die Tür aufmacht. „Sie sind also von der Zeitung“, sagt er, knipst das Licht an und beginnt ohne Umschweife einen Schwatz. Er sei ja schon immer ein Blauer, sagt er, und meint, dass er die Stuttgarter Nachrichten abonniert hat, nicht die Stuttgarter Zeitung. Es folgt ein kurzer Austausch über die Lage der Medien im Allgemeinen und des Pressehauses im Besonderen, bis jemand ruft: „Geht’s irgendwann weiter?“ Der Bus ist nämlich mitnichten leer. Bernd Vögelein, so heißt der Fahrer, nimmt’s gelassen. „Habt ihr noch einen wichtigen Termin? Das schaffen wir schon.“ Also Knopfdruck, Tür zu, Abfahrt.

Zwischen angeheitert und angefressen

Wer da so von hinten gerufen hat, das ist der Kevin. Nachnamen will niemand nennen, auch später nicht. Kevin ist 23 und launemäßig irgendwo zwischen angeheitert und angefressen. „Wir haben eine Freundin besucht und waren auf einem Fest“, sagt er. „Wenn schon Fest, dann in Plieningen“, sagt Sebastian, sein Kumpel, der ihm gegenüber sitzt. Das muss wohl sarkastisch gemeint sein, denn nach Plieningen wollen die Drei – die 20-jährige Laura gehört auch noch dazu – nicht mehr kommen. Sebastian übrigens ist 32 Jahre alt. „Wie alt bist du denn?“, schießt es aus Laura. „Das ist ja wie beim Kevin, nur andersrum.“ So lange kennen die drei sich wohl doch noch nicht.

Bernd Vögelein Foto: Ott

Anfangs sind es vier Fahrgäste, die sich in die Innenstadt fahren lassen, um ihre Anschlüsse, meist die S-Bahn, zu bekommen. Am Degerlocher Albplatz steigen noch einmal fünf zu. Die meisten steuern die letzte Sitzreihe an. Vögelein steuert derweil die Neue Weinsteige an. Auf autoleerer Straße geht es ins Tal hinab, gefühlt ziemlich zügig, nach einem Blick auf den Tacho aber im erlaubten Bereich. So ein tonnenschwerer Bus wiegt sich eben anders in die Kurve als ein Kleinwagen.

„Auch wenn da oben steht, während der Fahrt nicht mit dem Fahrer reden, stehe ich bereit“, sagt Vögelein. Seit 24 Jahren sitzt er hinterm Steuer. Es ist sein Traumberuf. „Wenn es nach mir ginge, würde ich jede Nacht fahren“, sagt er. Erstens fühlt er sich pudelwohl, wenn die Sonne untergegangenen ist, und zweitens sind die Fahrgäste besonders unterhaltsam. „Wir fahren fast nur Studenten hier hoch. Die sind zwar auch laut und besoffen. Aber halt mit etwas mehr Niveau.“

Einige müssen sogar stehen

2.22 Uhr, Ankunft Schlossplatz. Ein Pulk junger oder jung gebliebener Leute drängt sich um die gelben Busse. Vögelein öffnet die Tür. „Wenn ich nach Degerloch will, ist das dann hier richtig?“, fragt einer, der seine Nase hereinsteckt. „Kommt darauf an, wie schnell Sie da sein wollen“, sagt Vögelein und gibt in etwa folgende Erklärung, nachträglich ergänzt durch einen Blick in den Linienplan. Auf die Filderebene führen fünf Linien. Von links nach rechts ist da zuerst die N 1, die Büsnau, den Vaihinger Ortskern und die Uni streift. Die N 10 rollt über Kaltental bis nach Rohr und schwenkt Richtung Möhringen und Degerloch. Die N 9 macht von Degerloch aus die Runde durch Möhringen und den Fasanenhof. Die N 8 rollt ebenfalls durch Degerloch und von dort aus aber quer durch Plieningen. Die N 7 fährt gen Sillenbuch.

Um 2.30 Uhr geht es wieder los. Der Bus ist voll, einige müssen stehen, es wäre aber noch Platz für mehr Fahrgäste. Gesittet geht es zu. Nur einer, der offensichtlich zu tief ins Glas geschaut hat, schaut elend drein. Er lehnt sich die Fahrt über nach vorne und legt seinen Kopf auf die verschränkten Arme. Sein Kumpel glotzt ins Handy.

„Extrem derb ist es an Silvester“, sagt Vögelein. „Da umarmen die Leute den Bus und küssen die Windschutzscheibe.“ Er beginnt, Anekdoten zu erzählen. „Manchmal denke ich, ich sollte ein Buch schreiben.“ So richtig gefährlich sei es noch nie geworden. Aber einmal, da hat er alle Fahrgäste – auch die unbeteiligten – rausgeschmissen. In Hoffeld war das. Nachdem sich die Gemüter an der kalten Luft ein wenig abgekühlt hatten, ließ er die meisten von ihnen wieder einsteigen.

Heim von der Ü-50-Party

Rita, blonde Locken, kurzes grünes Kleid, sitzt in der dritten Reihe hinter dem Fahrer. „Eigentlich gehör ich hier ja nicht rein“, sagt sie. Damit meint sie ihr Alter. Regelmäßig besucht sie eine Ü-50-Party, ihr Musikgeschmack spricht eher jüngere Zielgruppen an. „Ich komme aus einer Technodisco in Cannstatt“, sagt sie. „Ein Freund nimmt mich mit dem Auto bis zum Schloßplatz, dann steig ich in den Nachtbus.“ Da fühle sie sich sicherer als in einem Taxi.

Rita steigt an der Aulendorfer Straße aus. Es ist 3 Uhr, eigentlich ist die Stunde voll, und eigentlich sollte der Bus schon ein paar Haltestellen weiter sein. Der Schreiber dieser Zeilen bleibt lieber sitzen und lässt sich zum Ausgangspunkt zurückbringen. Es ist 3.19 Uhr, als der Bus in Steckfeld hält. Zum Abschied gibt es einen kurzen Schwatz mit Vögelein, diesmal steigt er aus und macht mit dem Handy ein Foto. Die letzte Frage geht an Schaper, die Pressesprecherin der SSB. Und, war das denn nun die volle Dröhnung? „Ich hab gedacht, da würde es mehr Party geben“, sagt sie. „Aber die Leute waren wohl müde und wollten nur nach Hause geschaukelt werden.“

Unsere Online-Themenseite

Die Geschichten der 24-Stunden-Serie bündeln wir auf www.stuttgarter-zeitung.de/thema/24-Stunden-Serie und www.stuttgarter-nachrichten.de/thema/24-Stunden-Serie.