Der Gemeinderat will, dass mehr Stuttgarter selbst über ihre Stadt bestimmen – und entmachtet sich selbst. Der zweite Versuch zum Bürgerhaushalt wird weit verbindlicher ausfallen als die Premiere.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

S-Mitte - Schuld daran ist nicht nur die SPD: Der Gemeinderat hat nahezu einhellig für die zweite Auflage des sogenannten Bürgerhaushalts 160 000 Euro zusätzlich genehmigt. Das Geld soll ausgegeben werden, um mehr Menschen vom Segen zu überzeugen, sich in die Kommunalpolitik einzumischen. Der erste Versuch, die Stuttgarter selbst über die Zukunft ihrer Stadt bestimmen zu lassen, gilt als Erfolg. Und dieser Erfolg „geht zurück auf eine Initiative der SPD“, sagt deren Fraktionschefin Roswitha Blind.

 

Unabhängig von Parteizugehörigkeit und Urheberrecht sind die Arbeiter dieses Erfolgs ein gutes Dutzend Engagierte, die sich allmonatlich in der Volkshochschule am Rotebühlplatz treffen. Bettina Bunk ist die Sprecherin dieses „Arbeitskreises Bürgerhaushalt“, der für den zweiten Versuch eine Liste mit Verbesserungen ausarbeitete, die der Gemeinderat fast ausnahmslos übernommen hat.

Bei der Premiere haben sich 9000 Stuttgarter beteiligt

Bei der Premiere hatten knapp 9000 Stuttgarter 1745 Vorschläge eingereicht, wie die Stadt ihr Geld ausgeben soll. Das waren schon viele im Vergleich zu anderen Städten, die ihre Bürger übers Geld mitbestimmen lassen, aber „das soll noch besser werden“, sagt Bunk. „Wir wollen gezielt Gruppen ansprechen, die nicht so repräsentiert waren.“

Blind formuliert es klarer: „Es soll sich nicht nur die Halbhöhenlage beteiligen.“ Dieser Rückschluss liegt nahe, weil seinerzeit die Sanierung des Sillenbucher Freibads auf Platz eins der Wunschliste kletterte. Im beschaulichen Stadtbezirk am Waldrand beteiligten sich mehr Menschen an der Abstimmung übers Geld als in Bad Cannstatt, dem einwohnerstärksten Bezirk. Ungeachtet solcher Merkwürdigkeiten „waren gegen alle Bedenken die Bürger sehr vernünftig“, sagt Blind. So hatte das Dauer-Reizthema keine Chance gegen vergleichsweise Kleinigkeiten: Den Vorschlag, auf Stuttgart 21 zu verzichten, befürworteten weniger Bürger als den Neubau eines Hauses der Jugendfarm Zuffenhausen.

Wer mitbestimmen will, braucht einen Internetanschluss

Ein Kernproblem wird sich nicht lösen lassen: Allein der Kosten wegen bleibt das Internet das Medium für Bürger, die Vorschläge verbreiten und über sie abstimmen wollen. Wer keinen Computer besitzt, muss sich auf Umwegen beteiligen. Deshalb sollen in Volkshochschulkursen ehrenamtliche Ratgeber ausgebildet werden, die beispielsweise in Altenheimen für den Bürgerhaushalt werben. An Freiwilligen ist laut Bunk kein Mangel. 14 Interessenten haben sich bisher gemeldet: „Das sind mehr, als wir erwartet haben.“ Außerdem soll mit Versammlungen, Broschüren und sogar mit Kinospots für die Beteiligung geworben werden.

Bei den jüngsten Haushaltsberatungen hat der Gemeinderat größtenteils Bürgerwünsche beschlossen, die ohnehin eine der Fraktionen beantragt hatte. Zwar behält das gewählte Stadtparlament das letzte Wort. Ungeachtet dessen aber entmachtet sich der Gemeinderat ein Stück weit selbst. Sofern die Beteiligung wie gewünscht wächst, „wird indirekt eine gewisse Verbindlichkeit hergestellt“, sagt Bunk. „Der Gemeinderat wird sich sehr genau überlegen, was er ablehnt.“ Zumal zu den Neuerungen für den zweiten Versuch gehört, dass im Netz veröffentlicht wird, welche Fraktion welche Vorschläge befürwortet. Und zwar vor der Entscheidung.

Allerdings hat der Bürgerhaushalt auch für die Kommunalpolitiker Vorteile, vor allem den, dass sie überprüfen können, ob manch’ hitzige Debatte außerhalb des Ratssaals überhaupt jemanden interessiert. Zwar mag es niemand laut sagen, aber es gab in der ersten Runde Stadträte, die im Sinne eines Testballons ihre eigenen Vorschläge zur Abstimmung gestellt haben. Die meisten fielen durch.