Jeden Montag protestieren in North Carolina Tausende Demonstranten gegen die rigide Sozialpolitik der Republikaner – und das seit mehr als einem Jahr. Ihr Wortführer ist ein schwarzer Prediger, der die Menschen aufrüttelt.

North Carolina - William Barber geht am Stock. Er leidet seit Jahrzehnten an einer rheumatischen Erkrankung. Das wird der Grund sein, warum er an diesem Morgen etwas verkrampft an einem Rednerpult steht. Doch seine Stimme ist fest. Mit dem Bariton des geübten Predigers heizt er die Menge an, die in der prallen Sonne vor dem Parlamentsgebäude von Raleigh in North Carolina demonstriert.

 

Die Extremisten hätten das Land übernommen, sagt der 50-jährige Kirchenmann aus dem Städtchen Goldsboro. „So ist es, Amen“, bestätigen dies ein paar Dutzend Anhänger wie aus einem Mund. „Die Gesetze dieser Extremisten sind allesamt wirtschaftlich unsinnig“, sagt Reverend Barber. Und wieder wird er bekräftigt: „So ist es, Amen!“ Barber, ein bulliger Mann im schwarzen Anzug des Südstaatenpfarrers, sagt: „Sie greifen uns an, wo sie nur können“ – weniger Steuern für die Reichen, mehr Steuern für die Armen. „So ist es, so ist es. Amen, Amen.“ Die Demonstration in North Carolinas Hauptstadt gerät zum Freiluftgottesdienst.

Im Geiste von Martin Luther King

Reverend Barber ist Gesicht und Stimme einer Protestbewegung, die seit einem Jahr in North Carolina gegen die Politik der Republikaner auf die Straße geht und schon zahlreiche Bundesstaaten im Süden der USA erfasst hat. „Moral Mondays“ werden die Demonstrationen genannt, die immer montags an die Moral der Bürger appellieren. Und nicht nur Reverend Barber selbst sieht sich in der Tradition der 60er Jahre – die meisten Menschen, die sich an diesem Morgen in Raleigh versammeln, hoffen, dass sie Teil von etwas Größerem sind, bestenfalls einer erfolgreichen Bürgerrechtsbewegung, wie sie Martin Luther King vor gut fünfzig Jahren in den USA angeführt hat. Wenn das so kommen sollte, dann wäre William Barber der Geburtshelfer. Der afroamerikanische Prediger ist seit April vergangenen Jahres quasi der Anführer der Moral-Monday-Bewegung.

Es war der letzte Montag im April 2013, als Barber eine Gruppe von Geistlichen und Aktivisten in das Parlamentsgebäude in Raleigh führte. Sie sangen „We shall overcome“, sie zitierten aus der Bibel, sie blockierten die Eingänge. Die Polizei kam, legte den Demonstranten Handfesseln an, führte sie ab, schrieb Anzeigen wegen Hausfriedensbruchs. Mehr als 900 solcher Anzeigen waren es vergangenes Jahr.

Bis zu 80 000 Menschen auf der Straße

So fing es damals an, aber so hörte es nicht auf. In der Woche darauf waren es mehr als 100 Menschen, die gegen die Regierung und das Parlament von North Carolina protestierten. Und es wurden immer mehr, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat. Vergangenen Februar versammelten sich gut 80 000 Menschen. Am ersten Moral Monday nach der Winterpause waren wieder Tausende Demonstranten auf der West Jones Street von Raleigh, die am Parlamentsgebäude vorbeiführt. Auch in Alabama, in South Carolina, in Tennessee, in Florida und anderswo ist es zu ähnlichen Protesten gekommen. Im Süden, der lange Zeit als Trutzburg der rechtsgerichteten Konservativen in den USA gegolten hat, begehren die Menschen auf.

„Wir wollen keine Versuchskaninchen mehr im Labor der Republikaner sein“, sagt ein Demonstrant, während vorne am Rednerpult Reverend Barber predigt und dazu aufruft, am nächsten Montag aber auch wirklich zahlreich zu erscheinen. Tatsächlich haben die Konservativen in North Carolina ganze Arbeit geleistet. Sie stellen seit Anfang 2013 die Mehrheit in beiden Parlamentskammern des Bundesstaates und den Gouverneur. Die Abgeordneten der Demokratischen Partei haben nichts mehr zu sagen. Das gab es in North Carolina seit mehr als einem Jahrhundert nicht mehr. Zusammen mit dem Regierungschef Pat McCrory haben die republikanischen Abgeordneten nach Ansicht der Demonstranten im vergangenen Jahr so ziemlich jedes Gesetz revidiert, das die Armen und Unterprivilegierten geschützt habe.

Kein Geld für Krebsbehandlung

Neben Reverend Barber steht an diesem Tag ein schlaksiger Mittsechziger im weißen Kittel eines Arztes. Charles van der Horst, Professor der Medizin an der Universität von Chapel Hill, sagt, das Parlament habe den Zugang zur Sozialversicherung extrem eingeschränkt: „In North Carolina haben fast 500 000 Menschen keine Krankenversicherung. Wissen Sie, was das bedeutet? Das sind 1000 bis 2000 Tote mehr im Jahr.“ Van der Horsts Unterlippe bebt vor Empörung. Er zeigt hinter sich auf das Parlamentsgebäude, in dem gerade eine Sitzung begonnen hat, und schnaubt: „Die haben Blut an ihren Händen.“

Pattie Meegan findet das auch. Die Frau mit den Augenringen ist vom Krankenbett ihres Mannes zur Demo gekommen. Ihr Mann, sagt sie mit stockender Stimme, leide an Prostatakrebs im Endstadium. Die Behandlung koste mehrere Hunderttausend Dollar. „Das können wir uns nicht leisten“, sagt Pattie Meegan, und der Staat sei nicht bereit zu helfen. „Dabei ist Prostatakrebs durchaus heilbar.“ Nur in North Carolina sei das offenbar anders.

Wohlhabende werden bevorzugt

Der Bundesstaat im Süden der USA sei einmal ein fortschrittlicher Flecken Erde gewesen, schrieb die „New York Times“ unter der Überschrift „Der Niedergang North Carolinas“. Dann aber seien Pat McCrory und seine Republikaner gewählt worden und hätten „grotesken Schaden“ angerichtet. Die Mängelliste ist lang: Zuschüsse für Arbeitslose wurden gestrichen. Zuwendungen für staatliche Schulen zu Gunsten privater Schulen umgeleitet. Das Gesetz, das zum Tode verurteilten Afroamerikanern die Chance gab zu beweisen, dass sie unschuldig und Opfer von Diskriminierung seien. Weg. So wie die Zuschüsse zur Krankenversicherung. Neu dagegen: Steuergesetze, die Wohlhabende bevorzugen; ebenso wie ein Gesetz, wonach die meisten Abtreibungskliniken in dem Bundesstaat ihren Betrieb aufgeben müssen.

Da wären noch die neuen Vorschriften, dass sich Wähler ausweisen müssen, bevor sie ihren Stimmzettel abgeben dürfen. Das ist in vielen Staaten der USA unüblich und trifft vor allem Frauen und Afroamerikaner, die in der Regel seltener als Weiße über Führerscheine oder andere Dokumente verfügen. Die Schlussfolgerung der Zeitung: „Einst galt North Carolina als ein Leuchtfeuer des Weitblicks im Süden, eine Ausnahme in einer Region der schlechten Bildungschancen, der Intoleranz und des Geizes.“ In nur wenigen Monaten sei es den Republikanern gelungen, den guten Ruf eines Bundesstaates zu zerstören.

Erfolgreiche Kampagne der Republikaner

Was klingt wie die Folgen der undemokratischen Machtergreifung durch eine Partei, ist in North Carolina allerdings die Folge einer freien Wahl. Selber schuld, könnte man sagen. Doch Jeremy Sprinkle, ein 36-jähriger Gewerkschafter aus Raleigh, hat eine andere Erklärung. „Präsident Obama hat bei seiner ersten Wahl im Jahr 2008 North Carolina gewonnen. Das war ein Schock für die Republikaner, die daraufhin alles gemacht haben, um eine Wiederholung zu verhindern“, sagt Sprinkle, der einen buschigen Vollbart trägt und ein hellblaues T-Shirt, auf dem steht, dass die Rechte der Arbeiter geschützt gehören. Die Kampagne wirkte. Obama unterlag bei seiner Wiederwahl 2012 seinem Konkurrenten Mitt Romney in diesem Bundesstaat – und die Konservativen in North Carolina wurden mit einer Supermehrheit im Landesparlament belohnt.

Andere wie der Lehrer Ray Riffe sagen, das Problem sei einfacher zu erklären. Die Demokraten hätten bei der letzten Wahl schlicht und einfach zu wenige Stimmen bekommen, weil viele ihrer Anhänger nicht zur Wahl gegangen seien. Die Bewegung, von der die Demonstranten alle reden, ist auch eine Bewegung der Enttäuschten.

Die Bewegung ist bunt gemischt

Im Gegensatz zur Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre, die vor allem die Gleichberechtigung der Schwarzen in den USA forderte, stellen die Demonstranten von Raleigh einen Querschnitt durch die Bevölkerung dar. Es treffen sich Alte, Junge, Weiße, Schwarze, Latinos, Schwule, Lesben, um Barbers Predigt zu hören. Der ist inzwischen an der Stelle im Text angelangt, in der es um das Durchhaltevermögen geht. „Wir sind hier, und wir bleiben hier. Das ist ein Kampf um die Zukunft und die Seele unseres Staates“, ruft der Geistliche und stützt sich auf seinen Stock.

Moralisch seien die Demonstranten allen überlegen, sagt Barber. „So ist es, Amen“, antwortet die Protestgemeinde. „Wir sind die Söhne und Töchter von Fannie Lou Hamer“, ruft Barber jetzt. Das war die schwarze Bürgerrechtlerin aus Mississippi, die in den 60er Jahren für die Gleichberechtigung kämpfte. „So ist es, Amen“, schallt es dem Prediger aus den Reihen der Zuhörer entgegen. Sie träumen in diesem Moment alle ein bisschen davon, dass sich die Geschichte wiederholen möge.