Theater ist wie das Leben. Oder ist das ganze Leben ein Theater. Manchmal sind die Trennlinien unscharf. Besonders bei Schauspielerin Kathrin Hildebrand. Sie spielt mit ihrem Ensemble Lokstoff im öffentlichen Raum – immer zwischen Kunst, Kommerz und sozialem Auftrag.

Stuttgart - . Frau Hildebrand, wann hat Sie das letzte mal jemand mit dem Satz „Jetzt mach’ doch nicht so ’nen Theater“ angeherrscht?
(Lacht herzhaft). Oh, das ist schon lange her. Und bei meinem Job wäre es ja das Ende.
Gibt es für Sie eigentlich eine Differenz zwischen dem echten Leben und Theater?
Eigentlich schon.
Eigentlich?
Ach, wissen Sie, wenn ich Leuten sage, dass ich Schauspielerin bin, bekomme ich oft die Antwort: Ich auch! Ich schauspielre auch oft.
Also keine Differenz. Wir sind alles Rollenspieler.
Jein. Es ist schon ein Unterschied, ob man das Ganze professionell betreibt oder im Leben irgendwelche Rollen annimmt.
Hand aufs Herz. Haben Sie Ihre Fähigkeiten auch schon mal in heiklen Situationen des Lebens genutzt.
(Schweigt kurz und grinst) Nächste Frage.
Nein.
Okay. Zweimal hatte ich es versucht, als mich die Polizei angehalten hatte, weil ich mit dem Handy bei Autofahren telefonierte. Ich habe da echt mein Bestes gegeben und eine unglaubliche Geschichte erzählt.
Und?

Raus der Routine

Hat nix genützt. Die Beamten ließen sich nicht beeindrucken.
Damit sind wir mitten im Leben. Also genau bei Lokstoff, ihrem für Theater im öffentliche Raum. Was diese Verbindung von Leben und Theater der Ursprung von Lokstoff?
Unsere Idee war eigentlich, dem Theateralltag zu entkommen und den Kreis des Publikums zu erweitern. Also Leute ansprechen und begeistern, die sonst nie mit Theater in Berührung kommen. Junge Leute – nicht nur das klassische Bildungsbürgertum.
Daher sind ihre Bühnen die Stadtbahn oder die Stadtbibliothek.
Genau. Wir wollten alle Hürden abbauen. Denn manche Menschen glauben, oh Theater, das ist zu anspruchsvoll für mich. Daher haben wir das Theater mitten ins Leben der Stadt gebracht. An Orte des Alltags. Es macht mich heute noch glücklich, wenn wir Menschen erreichen, die sonst nicht ins Theater gehen.
Was wollen Sie diesen Menschen geben?
Ein schönen Moment, einen guten Gedanken, der etwas hinterlässt. Am besten eine kleine Veränderung.
Theater als Auftrag?
Wir haben wirklich einen sozialen Auftrag. Wir haben schon ganz zu Beginn für sehbehinderte Menschen ein Programm gemacht. Aber mit dem Stück Revolutionskinder haben wir zum ersten Mal eine Produktion gemacht, in der die jugendlichen Darsteller die Hauptdarsteller sind.
Inwiefern?
Wir wollten ein Stück über Thema Revolution und die Sehnsucht nach Freiheit machen. Diese Sehnsucht haben in der Regel jüngeren Menschen. So wurde daraus ein Stück für Jugendliche mit Jugendlichen.
Klingt nach Bildungsauftrag.
Wenn Sie so wollen. Man muss tatsächlich einen Auftrag in sich spüren, wenn man etwas mit Passion machen will.
Hier scheinen die Trennlinien zwischen Profession und Passion wieder unscharf zu werden.
Es hat sich aus der Arbeit mit den Jugendlichen tatsächlich ein privates Engagement in der Flüchtlingsarbeit entwickelt. Wir haben gesehen, es gibt neue Mitbewohner in Stuttgart. Die wollen wir integrieren. Und so kam die Idee zu unserem Stück Passworte, das in einem Schiffscontainer spielt.
Stichwort Passworte. Wie oft haben Sie das Stück, in dem es um Flüchtlingsschicksale geht, bisher gespielt?
Wir haben damit fast 6000 Schüler erreicht.

Das Stück Passworte verändert Perspektiven

Das ist wirklich nur eine Zahl. Welche Qualität steckt dahinter?
Uns rufen oft Schulen an, bei denen ein Rechtsruck droht. Gerade dort kann diese Geschichte, bei denen ein persönliches Schicksal, ein Gesicht, nahbar und erfahrbar wird, sehr viel bewirken. Auch durch den direkten Kontakt zu dem schauspielenden Flüchtling nach der Aufführung kommen viele Jugendliche ins Nachdenken. Sie verändern ihre Perspektive.
Aber jetzt ist Schluss mit Passworte?
Nicht ganz. Eine Stiftung hat uns 20 000 Euro gespendet. Das reicht wieder für 32 Vorstellungen und 1600 Schüler.
Und dann?
Kommt hoffentlich noch ein Spender. Oder unsere neue Idee fruchtet.
Die wäre?
Firmen buchen uns, stellen den Container bei sich im Hof auf, damit wir morgens für die benachbarte Schule Passworte spielen können und abends für die Mitarbeiter.
Gibt es schon Angebote?
Leider noch nicht.
Jetzt haben wir die Kunst, das Soziale und die Passion als Triebkräfte für Lokstoff ausgemacht. Wird beim nächsten Projekt „Heymatlos“ die Kunst auf dem Altar des Kommerz’ geopfert?
Sie meinen unser Gastspiel im Einkaufcenter Gerber?
Richtig.
Na ja. So einfach ist das nicht. Grundlage dafür war das Stück „Im Ausnahmezustand“ von Falk Richter. Und dieses Stück sollte an einem Ort in der Stadt gespielt werden, der noch kein wirklicher, ein wurzelloser Ort ist. Da kamen wir aufs Gerber. Im Endeffekt symbolisiert diese Bühne perfekt den Kern des Stücks. Denn wenn du eine Weile in einem Einkaufscenter bist, weißt du nicht mehr, an welchem Ort der Welt du gerade bist.
Also wieder mitten im Leben.
Ja, wir machen eben überall Theater.