Der geistig behinderte Ulvi K. ist 2004 als Mörder der neunjährigen Peggy verurteilt worden. Der Psychiater glaubte seinem widersprüchlichen Geständnis. Jetzt wird der Fall neu aufgerollt – und mit ihm die Frage nach der Rolle der Forensiker im Strafprozess.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

Stuttgart - Seit fast zwölf Jahren sitzt Ulvi K. in der geschlossenen Psychiatrie in Bayreuth – möglicherweise zu Unrecht. Das Landgericht Hof hat den geistig behinderten jungen Mann im Jahr 2004 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Es hielt für erwiesen, dass er im Mai 2001 im oberfränkischen Lichtenberg Peggy Knobloch ermordet hat. Die Leiche der damals Neunjährigen wurde nie gefunden. Ihr Urteil bauten die Richter auf ein Geständnis, das Ulvi K. bei der Polizei abgelegt hatte, später jedoch widerrief. Sie stützten sich dabei maßgeblich auf das Gutachten von Hans-Ludwig Kröber, einem der renommiertesten psychiatrischen Gutachter Deutschlands. Der Berliner Kriminalpsychiater hielt es für wahrscheinlich, dass das Geständnis auf tatsächlich erlebten Ereignissen basiert. Der Verteidiger von Ulvi K., Michael Euler, ist indessen fest überzeugt, dass es durch die „Zermürbungstaktik der Polizei“ zustande kam. Der Rechtsanwalt aus Frankfurt hat nach langem Kampf eine Wiederaufnahme erwirkt. Das Verfahren wird seit heute am Landgericht Bayreuth neu aufgerollt.

 

Der Fall reiht sich ein in eine Kette spektakulärer Prozesse, in denen psychiatrische Gutachter das Zünglein an der Waage waren. Einiges spricht dafür, dass sich im Fall Peggy abermals eine Expertise als fatal erweisen könnte – wie bei Gustl Mollath, Harry Wörz oder bei Horst Arnold. Diese Justizirrtümer der jüngsten Vergangenheit rücken das Zusammenspiel von Richtern und Gutachtern ins Zwielicht. Über Wohl oder Wehe der Angeklagten entschied letztlich in all diesen Fällen die Expertenmeinung der Psychiater, der sich die Richter anschlossen.

Das Zünglein an der Waage

„Man weiß aus Untersuchungen, dass die Richter den Gutachten fast immer folgen“, sagt der Freiburger Helmut Kury, Professor für forensische Psychologie und seit Jahrzehnten selbst Sachverständiger für die Justiz. Daraus resultiert eine Schieflage, die dem Gutachter eine ungute Machtfülle verschaffe, sagt Kury. Für die Betroffenen haben die Expertisen weit reichende Folgen. Die Sachverständigen beurteilen ihre Glaubhaftigkeit, ihre Schuldfähigkeit, und sie geben Prognosen darüber ab, ob ihr Leben künftig straffrei verläuft oder nicht.

Im Zusammenspiel mit der Überlastung der Gerichte, die gehalten sind, ihre Fälle rasch abzuarbeiten, neigen Richter offenbar zu einer unkritischen Übernahme der Gutachtermeinung. Dass dabei von Seiten der Gerichte bisweilen großzügig über Mängel hinweggesehen werde, zeigt Kathleen Schnoors Untersuchung „Beurteilung der Schuldfähigkeit“ von 2009. Auf diesem Wege würden Gutachter die Aufgabe des Richters übernehmen, resümiert die Juristin.

Richter brauchen gesundes Misstrauen

Der Chefarzt der Forensischen Psychiatrie Bad Schussenried, Heiner Missenhardt, sieht zwar den erheblichen Einfluss der Gutachter auf gerichtliche Urteile: „Aber die Macht entsteht nur dort, wo es ein Machtvakuum gibt.“ Missenhardt, der seit 30 Jahren Expertisen in Strafprozessen erstellt, verteidigt seine Zunft und spielt den Ball an die Justiz zurück: „Je mehr ein Gericht nachfragt, wie man zu seinem Ergebnis kommt, umso nachvollziehbarer müssen die Ergebnisse sein, die man präsentiert.“ Auf diese Weise sei die Gefahr gebannt, dass ein Gutachter mehr Macht bekommt, als ihm zusteht. „Richter mit gesundem Misstrauen geben keinen Zentimeter ab von ihrer Macht.“

Um ermessen zu können, ob eine Expertise handwerklich einwandfrei ist, müssten die Gespräche mit den zu Begutachtenden lückenlos dokumentiert sein – am besten per Video. Außerdem müssten die Richter mit den Mindeststandards eines Gutachtens vertraut sein, sagt Kury. Beides sei nicht immer der Fall. Mehr Sachkenntnis seitens der Richter wäre geboten, zumal die Gerichte immer häufiger Psychiater engagierten. Dabei gibt es gar nicht viele geeignete Experten. „Forensische Psychologie und Psychiatrie kann man nur an wenigen Orten in Deutschland studieren“, sagt Kury. Deshalb kämen Kollegen zum Zug, die weder die Erfahrung noch erforderliche Kenntnisse mitbrächten, was mitunter zu „katastrophalen Gutachten“ führe. Aktuelle Forschungsergebnisse stützen die Beobachtung des Freiburger Forensikers. In Anbetracht der enormen Verantwortung eines Gutachters im Strafprozess sei die mangelnde Sorgfalt mancher Gutachter erschütternd.

Wie stark geben die Gerichte die Tendenz vor?

Nun ist die forensische Psychiatrie keine exakte Wissenschaft wie die Mathematik, deren Ergebnisse ein Gericht nachrechnen kann. Die Qualität der Ergebnisse hängt von der Beobachtungsgabe und der Erfahrung eines Sachverständigen ab, seine Persönlichkeit spielt in das Gutachten ebenso hinein wie sein Fachwissen. Diesen interpretatorischen Spielraum, den eine psychiatrische Expertise eröffnet, wissen offenbar auch Staatsanwälte und Richter für sich zu nutzen.

In seiner aktuellen Ausgabe berichtet das „Ärzteblatt“ von einer Studie, derzufolge die Gerichte oft eine Richtung vorgeben, wenn sie ein Gutachten bestellen. Fast jeder zweite befragte psychologische Sachverständige gab laut Bericht an, „in Einzelfällen oder häufig bei einem Gutachtenauftrag eine Tendenz signalisiert bekommen zu haben“. Besonders kritisch sehen die Urheber der Studie hauptberufliche Gutachter. Zu diesem Kreis gehören die „Hausgutachter“ der Gerichte. Das sind Fachleute, die meist kurz und knackig formulieren können und von den Gerichten laufend mit Aufträgen versorgt werden. Hier bestehe eine handfeste wirtschaftliche Verknüpfung, die die Unabhängigkeit des Sachverständigen einschränken könne.

Der Versuch einer Einflussnahme auf den Gutachter wurde dieser Tage auch vor Beginn des Wiederaufnahmeverfahren im Fall Peggy unterstellt. Der zuständige Richter soll dem Sachverständigen Hans-Ludwig Kröber nahegelegt haben, in seinem neuen Gutachten zu einem anderen Schluss zu kommen als vor zehn Jahren. (siehe Interview) Das Bayreuther Gericht dementierte. Kröber selbst will sich vorab nicht äußern: „Für mich finden die Prozesse immer noch im Gerichtssaal statt“, sagte der Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Berliner Charité auf StZ-Anfrage.