Der mutmaßliche Mörder des elfjährigen Tobias aus Weil im Schönbuch gibt im Prozess tiefe Einblicke in seine gestörte Sexualität – für die Familie des Opfers eine Tortur.

Stuttgart - Er presst die Daumen gegen die Augen, legt er den Kopf in die Armbeuge. Immer wieder braucht der Angeklagte kurze Pausen, so ungeheuerlich scheint ihm seine eigene Tat zu sein: der Mord an dem damals elfjährigen Tobias aus Weil im Schönbuch, den er am ersten Prozesstag in allen Details gesteht. „Ich will alles sagen. Aber es fällt mir extrem schwer.“

 

Fürwahr: es ist kaum zu ertragen, was der 48-jährige Bäcker aus Filderstadt schildert. Schon das, was bisher über den Mord an die Öffentlichkeit gedrungen war, ließ schaudern. Der Junge war am 30. Oktober 2000 an einem Fischweiher im Kreis Böblingen mit 38 Messerstichen getötet worden. Doch die Einzelheiten, die tiefen Einblick geben in den stark gestörten Sexualtrieb des Angeklagten, verlangen den Zuhörern im Sitzungssaal eins des Landgerichts Stuttgart viel ab. Vor allem den Eltern des getöteten Jungen und Tobias älterem Bruder, heute 25 Jahre alt – alle drei treten als Nebenkläger auf.

Nicht als „abartiges Monster“ angeprangert werden

Von einer „schweren sexuellen Deviation“ des Angeklagten hat der Verteidiger Michael Lepp zuvor gesprochen. Entsprechendes offenbart ein 84 Seiten starkes psychiatrisches Gutachten. Sein Mandant solle nicht als „abartiges Monster“ in der Öffentlichkeit angeprangert werden. Deswegen beantragt Lepp gleich zu Beginn der Sitzung, Besucher und Journalisten von der Verhandlung auszuschließen. Zwei Stunden lang berät sich die erste Schwurgerichtskammer daraufhin – und weist den Antrag schließlich zurück: „Die Sexualität des Angeklagten ist von großer Relevanz für die Tat. Deswegen hat die Öffentlichkeit ein erheblich schützenswertes Interesse insbesondere an dessen Äußerungen“, so die Richterin Regina Rieker-Müller.

Und dann spricht der Angeklagte: flüssig, eloquent, mit schwäbischem Duktus und einer Offenheit, die umso mehr überrascht, als er sich den Fotografen und Filmteams nur mit Strickmütze und verschanzt hinter einem Leitz-Ordner zeigt. Eineinhalb Stunden lang redet er sich von der Seele, was er bis zu seiner überraschenden Festnahme vergangenen August elf Jahre lang für sich bewahrt hatte. Unterbrochen nur von kurzen Pausen, in denen er den Kopf auf die Hände stützt und durchatmet. Abgründe tun sich auf.

„Blöde Idee“

Am Wochenende bevor Tobias starb, war die Zeit umgestellt worden. „Es wurde also früher dunkel. Deswegen habe ich den Weg abgekürzt, als ich mit dem Mountainbike eine neue Strecke abfahren wollte.“ Durch Wald und über Wiesen kam er zu einem kleinen Bachlauf, der in den Weiher bei Weil im Schönbuch mündet. „Zufällig habe ich den Jungen da sitzen sehen. Und dann kam mir die blöde Idee: ,Mit dem könntest du das jetzt mal machen.‘“

Er sprach den Jungen an und lockte ihn unter dem Vorwand, Tobias solle ihm beim Einstellen seiner Radbremsen helfen, hinter die Hütte des örtlichen Fischereivereins. Mit einem Butterfly-Messer in der Hand wollte er Tobias zwingen, seine Hose auszuziehen. Aber Tobias, wenngleich laut Anklage seinem Mörder schutzlos ausgeliefert und ohne Aussicht auf Hilfe, begann zu schreien, zu strampeln, er schlug um sich. „Ich wollte, dass er still ist. Es kam zu einem Gerangel, bei dem mir das Messer aus der Hand fiel“, sagt der Angeklagte. Er habe es aufgehoben und Tobias dabei zum ersten Mal in die Augen geblickt. „Ich habe darin Todesangst gesehen. Dann hat es bei mir ausgesetzt.“ Wie im Wahn habe er auf den Jungen eingestochen, nichts gesehen, nichts wahrgenommen außer diesen Geräuschen: „Sein Schreien, sein Stöhnen. Und dann ein Zischen wie Luft, die aus einem Ballon entweicht.“

Zeit lindert den Schmerz

Es ist diese Stelle, an der Tobias’ Mutter um Fassung ringt. Eine Psychologin begleitet die Familie auf ihrem schweren Gang, die drei ertragen den Verhandlungstag meist tapfer. Bald zwölf Jahre liegt die Tat zurück, seither sind sie in Therapie. Wenn Zeit auch nicht alle Wunden heilt, sie lindert doch zumindest den Schmerz. Jetzt hoffen die Hinterbliebenen auf Antworten: Sie wollen abschließen können mit dem Verbrechen, das ihren Jüngsten aus dem Leben riss. Deswegen war es ihr dringender Wunsch, den Mann zu sehen, der ihrem Sohn und Bruder das angetan haben soll. Der Tobias nach dessen Tod die Genitalien abgeschnitten hat – zur Befriedigung seiner sexuellen Lust.

„Es ist ein extrem übermächtiger Trieb. Schmerzen machen mir Spaß. Die Praktiken wurden immer masochistischer“, sagt der Angeklagte. Er schildert, wie er seine Geschlechtsteile seit Jahrzehnten selbst verstümmelt, Teile mussten ihm amputiert werden. „Wäre ich nicht gefasst worden, würde ich heute zu hundert Prozent nicht mehr leben, sondern wäre bei meinen Praktiken verblutet.“ Fotos davon und auch von den abgetrennten Genitalien des Jungen fanden Beamte des Landeskriminalamts Rheinland-Pfalz bei einer routinemäßigen Hausdurchsuchung im Zusammenhang mit Internetpornografie.

Pädophil

„Es war eine Zufallstat“, sagt der Mann, der sich als pädophil bezeichnet. „Ich habe Tobias nie zuvor dort angeln sehen. Ich kann mich nicht mal an sein Gesicht erinnern.“ Mit aller Gewalt habe er sich immer von Spielplätzen ferngehalten: „Meine Angst war, dass ich das noch mal mache – mit einem anderen Kind.“ Die Gedanken an den Jungen habe er irgendwann verdrängt, die Tat selbst aber nicht: „Wenn es die Todesstrafe gäbe, würde ich die nehmen. Ich habe nicht verdient weiter zu leben.“

Dann schildert der Mann, der als Sohn eines Malers und einer Putzfrau mit zwei Geschwistern am Bodensee aufwuchs, wie ihn auch wegen seiner sexuellen Fantasien seit Jahren Suizidgedanken plagten. Einmal habe er sich einem Arzt anvertraut, der ihn aber fortschickte. „Danach ging bei mir der Rollladen runter.“ Der ledige Bäcker, der mit Hobbys wie Radfahren und Modellautos sammeln versuchte, sich von seinen Neigungen abzulenken, wirkt nach seinem Geständnis erleichtert. „Wo ich hier sitze, bin ich froh, dass ich mich nicht umgebracht habe. Für die Eltern von Tobias. Dann müssten sie weiter mit der Ungewissheit leben und sich fragen, ob nicht doch der andere der Täter war.“

Der Verdacht fiel auf jemand anderen

Jahrelang hatte ein anderer im Verdacht gestanden, die Tat begangen zu haben: ein damals 16 Jahre alter, geistig zurückgebliebener Schüler. „Ich wollte ihn entlasten mit einer Diskette mit Fotos der Geschlechtsteile, die ich der Polizei anonym zuspielen wollte.“ Doch als er im Fernsehen hörte, der Verdächtige habe sich selbst belastet, dachte er sich: selbst schuld.

Dem 48-Jährigen droht außer lebenslanger Haft auch Sicherungsverwahrung. Die Staatsanwaltschaft legt ihm gleich drei Mordmerkmale zur Last: Heimtücke, sexuelle Befriedigung und Mord zur Verdeckung einer Straftat. „Mit seiner Schilderung des Blackouts will er auf eine Affekttat hinaus“, sagt Rechtsanwalt Hans-Peter Schmitt, der die Eltern des getöteten Jungen vertritt. „Das glaube ich ihm nicht.“

Die Kammer wird bis Mitte Mai 28 Zeugen und sechs Sachverständige hören, um ein stimmiges Bild von dem Angeklagten zu bekommen. Und dabei, wie zu erwarten, äußerst gründlich vorgehen, um Revisionsgründe auszuschließen. Besucher und Journalisten nicht aus einem prinzipiell öffentlichen Verfahren auszuschließen war ein Schritt in diese Richtung. Was immer die Richter noch zu hören bekommen: erschreckende Details wurden an diesem ersten Verhandlungstag offenbart.