Bei seiner Deutschlandpremiere erweist sich „Mary Poppins“ als poetisches Stück mit starker Musik und exzellenten Tanznummern. Supercalifragilisticexpialigetisch – jetzt kann das neue Musical starten.

Stuttgart - Supercalifragilisticexpialigetisch. Das, sagen Mary Poppins und der Lebenskünstler Bert, ist ein Wort, das für alles taugt. Ein Kunstwort, zusammengesetzt aus 34 Buchstaben, die sich in einem skurrilen Geschäft mit dem Namen „Gesprächsstoffhandlung“ als letzte Reste unter dem Ladentisch fanden. Man kann dieses Wort auch benutzen, wenn man gefragt wird, wie einem das neue Musical gefallen habe, das am Sonntagabend im Apollo-Theater Premiere feierte. „Mary Poppins“ ist wirklich supercalifragilisticexpialigetisch: Das Stück, das auf den zwischen 1934 und 1988 veröffentlichten Erfolgsromanen der Australierin P. L. Travers und auf der mehrfach Oscar-prämierten Disney-Verfilmung von 1964 fußt, ist musikalisch und in seiner Dramaturgie ein echter Hit (was schon mal seine ersten fünf Buchstaben rechtfertigt), und es hat, was ein Musical braucht: viel Poesie, eingängige Songs, je eine Prise Dramatik und Sentimentalität, einfache Botschaften, starke Charaktere und exzellente, stilistisch vielseitige Tanz-Ensembles. Für die zweieinhalb Stunden zauberhafter Träumerei jenseits des Alltagsgraus stehen dann die restlichen 29 Buchstaben.

 

Wobei, wer sehr kritisch ist, durchaus Einwände haben kann. Zum Beispiel gegen das gezeigte Familienbild, das am Ende geradezu verklärt wird: Da ist die Frau, die ihren Beruf aufgibt (im Film war sie noch eine Souffragette, also Kämpferin für weibliche Rechte, aber das ist eigentlich auch nur Staffage), da ist der Mann, der mit Gefühlen nicht umgehen kann. Das lernt er immerhin am Ende - sehr plötzlich, und daran sind weniger die magischen Kräfte des neuen Kindermädchens schuld als die beiden vorlauten Kinder Michael und Jane. Vor allem für deren Sehnsucht nach einer heilen kleinen Welt ist Mary Poppins so etwas wie ein Katalysator. Die Art des Rückzugs in die Privatheit ist schon ein bisschen sehr selbstgenügsam und, ja, kitschig.

Ein Sound von nostalgiegesättigter Heiterkeit

Wer dieses Zuviel als Zeitkolorit akzeptiert, hat allerdings einen richtig tollen Abend. Die Songs sind haben Ohrwurm-Qualitäten, und das gilt nicht nur für die schon aus dem Disney-Film bekannten der Sherman-Brüder wie „Chim-chim-cheree“, „Mit ´nem Teelöffel Zucker“, „Schritt für Schritt“ oder (siehe oben) „Supercalifragilisticexpialigetisch“, sondern auch für die Lieder und Arrangements, die George Stiles und Anthony Drewe für das Musical neu erfanden. Bernd Steixner treibt das Orchester an zu einem quirligen Sound unbeschwerter, notalgiegesättigter Heiterkeit, legt außerdem die musikalische Basis für jenes präzise Timing, das für Musicalaufführungen lebensnotwendig ist. Und weil außerdem die Balance zwischen Stimmen und Instrumenten stimmt, nimmt man den manchmal mulmigen Klang der Verstärkeranlage nicht sonderlich schwer.

Die tanzenden Sänger, die singenden Tänzer sind ebenfalls exzellent. Elisabeth Hübert gibt die Titelpartie ganz im Sinne ihrer Film-Vorgängerin Julie Andrews: hier als ungreifbares Zauber-Püppchen, das sie in höchster Höhe (sehr sauber!) tirilieren lässt, dort als resolute Frau, die weiß, was sie will und das auch tut. Nahbarer ist der quicke David Boyd als Bert, ein sehr körperlich agierender, sehr unmittelbar wirkender Künstler. Beeindruckend singen und tanzen auch die beiden Kinderdarsteller, Jenny Grace Hohlbauch und Jannis Wetzel: Beide sind, auch wenn sie hier oft ziemlich überzeichnend spielen müssen, große Nachwuchstalente. Exzellent besetzt sind auch die Partien der Eheleute Banks (vor allem Jenifer van Brenk bezaubert mit schönen Stimmfarben) sowie die kleineren Partien von Köchin, Vogelfrau, Diener und dem alten Kindermädchen.