Knapp drei Stunden lang richtig gute, abwechslungsreiche, originelle, temporeiche Unterhaltung: Der Stuttgarter „Tarzan“ ist im besten Sinn ein Musical für die ganze Familie – denn davon handelt es ja auch. Das Musical in der StZ-Rezension.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Knapp drei Stunden lang richtig gute, abwechslungsreiche, originelle, temporeiche Show, in der man bis zum Schluss mit Knalleffekten und anderen Überraschungen rechnen muss – so lässt sich der neue Stuttgarter „Tarzan“ am schnellsten auf den Punkt bringen. Und so muss man es ja eigentlich auch verlangen können von einem Musicaltheater, das von seinen Besuchern im Allgemeinen durchweg ordentliche Eintrittspreise verlangt, das beim Einlösen seiner steten Versprechen auf die „richtig gute Show“ aber auch abhängig ist von einem heiß umkämpften Markt internationaler Produktionen, der viel schmaler und risikoreicher ist, als es den Managern von Stage Entertainment lieb sein kann.

 

Mit „Tarzan“ jedenfalls haben sie den richtigen Fang gemacht. Die Geschichte vom elternlosen Menschenbaby, das von Affen großgezogen wird, um dann später  mit allen angenehmen und unangenehmen Konsequenzen wieder unter die Menschen zu geraten, dieses Exotenmärchen aus alten Kindertagen, das doch eigentlich nur noch für Comichefte oder alte Schwarz-Weiß-Filme geeignet scheint – die Musicalfassung mit der Musik von Phil Collins bringt es hier auf eine knallig grüne Bühne voller Verwandlungen, Ideen, Effekte und ganz erstaunlicher Traumbilder. Ein Jugendtraum, zu Poptheater geworden.

Und weil ja alle bei „Tarzan“ sofort an die berühmten Flugnummern an den Lianen denken – ja, es ist tatsächlich atemberaubend, wenn an diesem Abend immer wieder die Darsteller und Tänzer plötzlich an langen Seilen quer über das Publikum fliegen. Wir gehen mal ganz fest davon aus, dass hier alles sicherheitstechnisch doppelt und dreifach abgesichert ist. Aber bewundern muss man unbedingt, wie die Beteiligten hier nicht nur spielen, sprechen, singen und tanzen, sondern zu alledem auch noch Hochleistungssport betreiben. Dies hier in Möhringen ist vermutlich gerade das Musicalensemble mit der höchsten Zahl an Waschbrettbäuchen. Frappierend.

Kein falsches Kichern

Wenn es aber jetzt nur diese gute Show wäre, dieses Spektakel, dann wäre das dem Kritiker natürlich zu wenig. Ein gutes Musical muss auch eine gute Geschichte haben. Und wenn diese Geschichte wie im Falle des „Tarzan“ schon allseits bekannt ist, dann muss sie eben besonders interessant erzählt werden. Das gelingt. Viel Zeit und Energie wird zum Beispiel eingesetzt, der Affengroßfamilie weit jenseits des Skurrilen einen eigenen Ausdruck, eine eigene Bewegungssprache zu verleihen (insbesondere Andreas Lichtenberger scheint für seine Rolle als Hordenführer Kerchack manche Beobachtungsstunde in der Wilhelma verbracht zu haben; herrlich). Und nach etwa 20 Minuten zieht uns dann endgültig hinein der Auftritt des kleinen Tarzan alias Simon Vollmer, der mit seinem Song „Warum, wieso?“ die Grundfrage des ganzen Abends stellt: Wie lebt man an der Grenze einer Kultur, aus der man vertrieben werden soll, ohne zu wissen, wie eine andere aussehen könnte?

Diese andere Kultur begegnet dem inzwischen erwachsenen Tarzan (in jeder Beziehung einnehmend: Gian Marco Schiaretti) dann in Gestalt des Forschungsreisenden Professor Porter und seiner Tochter Jane. Schade, dass die Rolle der eigentlich ja erstaunlich mutigen, unternehmungslustigen und wissbegierigen Frau hier anfangs einen Tick zu kreischig-hysterisch gerät. Aber Merle Hoch gelingt es mit ihrem Künstlerformat rasch, der Figur dann doch interessante Tiefe zu verleihen. Und jener an sich sehr problematische, weil schon hunderttausendfach parodierte Moment der Geschichte – „ich Tarzan, du Jane“ –, die beiden Helden spielen ihn hier so dicht und auf den Punkt, dass sich nirgendwo im Publikum ein falsches Kichern regt.

Der deutlich ruhigere zweite Akt entfaltet nun diese Liebesgeschichte. Wer sich an die hohe Effekte-Taktzahl aus dem ersten Akt gewöhnt hat, mag vom nun Romanhaften enttäuscht sein. Aber gerade andersherum wird doch ein Schurz; pardon: ein Schuh daraus: Sehr schlau spitzt das Stück die Geschichte zu – eben nicht als schlichtes Exotenmärchen, sondern als geschickt gestrickte Parabel über den Zusammenprall zweier komplexer Kulturen, von denen keine per se für sich in Anspruch nehmen kann, wertvoller zu sein. „Es gibt keine unechten Familien“, sagt Porter mit Blick auf dieses andere Leben seiner an dessen Eigenständigkeit zeitweise noch zweifelnden Tochter. Gut gesagt, Professor.

Dazu gute Musik von Phil Collins inklusive eines Ohrwurms („You’ll be in my Heart“). Fast gar kein Kitsch. Nur zweimal (das ist im Musical nicht viel!). Die Affenwelt lebt. Mittendrin er: Tarzan; sie: Jane. Prompt kommen sie wieder angeflogen. Diese Familie ist anders. Und sie ist schön.