Mehr als 15 Jahre lang haben die Bochumer Symphoniker und ihr Generalmusikdirektor Steven Sloane gebraucht, bis ihr Traum vom eigenen Konzerthaus wahr wurde. Für Stuttgart könnte der Gebäudekomplex eine Blaupause sein.

Bochum/Stuttgart - „Schon hier“, sagt Steven Sloane, „wird jeder Besucher emotional und geistig verändert.“ Der Generalmusikdirektor der Bochumer Symphoniker, die man im direkten, schlichten Jargon des Ruhrpotts „Bosys“ nennt, steht im Foyer des Gebäudes, das ohne seinen Dauereinsatz nie entstanden wäre. Dennoch heißt der erste eigene Konzertsaal des Orchesters, dem der 58-jährige US-Amerikaner seit 22 Jahren vorsteht, nicht Steven-Sloane-Musikforum Ruhr, sondern trägt den Namen von Anneliese Brost, Verlegerin der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ). Deren Stiftung hat sich auch deshalb an der Finanzierung des Hauses beteiligt, weil man dessen Innenleben neu definiert hatte: Ein Ort der Musikvermittlung sollte in Bochum, ganz in der Nähe des beliebtesten städtischen Ausgehviertels am Rande der Fußgängerzone, entstehen, Profis und Amateure sollten hier eine Heimat finden. „Bochumer Musik-WG“ nennt das der Oberbürgermeister der Stadt, Thomas Eiskirch (SPD), bei seiner Ansprache zur Eröffnung. Im Klartext: Ein Flügel des Musikforums wird von der örtlichen, gut 10 000 Schüler starken Musikschule bespielt, der andere gehört dem ohnehin in Sachen musikalischen Bildungsarbeit sehr aktiven Orchester, das sich bisher bei Konzerten mit der trockenen Akustik von Schauspielhaus und Universitäts-Audimax bescheiden musste.

 

Zwischen beiden Flügeln ist das Foyer: eines, das es so nirgendwo anders gibt. Es ist hell, ungemein weiß, und seine Decke ist ganz weit oben. Von der profanisierten neogotischen Marienkirche, die vor dem Abriss stand, sind zwei lange Säulenreihen geblieben, hohe Glasfenster – und eine restaurierte Glocke, die jetzt den Pausengong ersetzt. Die Kartenkasse steht in der ehemaligen Apsis. Der Raum strahlt einen Zauber aus – auch deshalb, weil ihm überhaupt nichts Funktionales anhaftet. Und weil Sakrales und Profanes nicht nur dort ineinandergreifen, wo man unter ein Fresko den Wegweiser zum WC montiert hat.

Ein teil des Gebäudes gehört dem Orchester, den anderen nutzt die Musikschule

Vom Kirchenfoyer aus gelangt man in den Multifunktionsraum der Musikschule, der dreifach geteilt werden kann. Und man kommt – wahlweise auch durch ein neogotisches Portal – in den großen, 960 Zuhörer fassenden Konzertsaal. Viel Kirschbaumholz aus Pennsylvania hat man hier verbaut und die klassische Schuhschachtel-Architektur aufgebrochen, indem man auch hinter dem Orchester Zuschauerreihen errichtete. „So umarmt uns das Publikum“, sagt der stolze Generalmusikdirektor, der sich jetzt auch Intendant nennen darf, und dass er „einfach ein schönes Musik-Wohnzimmer“ haben wollte, das sagt er auch. Klangsegel über der Bühne und hier und dort Vorhänge vor den Holzwänden formen den Klang.

Wie der beschaffen ist, kann man im Eröffnungskonzert hören. Zunächst inszeniert da der Bochumer Komponist Stefan Heucke in seinem Auftragswerk „Baruch ata Adonaj“ die allmähliche akustische Besiedelung des Raums durch Bürger, 85 Orchestermusiker, Chorsänger, Profis und Laien; mitlaufende Übertitel sorgen für zusätzliche emotionale Aufladung. Auch Mahlers erste Sinfonie („Der Titan“) gelangte nicht zufällig auf das Programm, sie klingt sehr hell und sehr durchsichtig in diesem Saal, der das Nebeneinander des Unterschiedlichen in diesem Stück fein differenziert und gleichzeitig eine Vermischung von Klangfarben zulässt. Nur wenn hohe Bläser sehr laut spielen, kommt der Raum an seine Grenzen.Im Musikforum Ruhr hat man an allem gespart, nur nicht an der Akustik, die unter anderem jene Brüsseler Firma verantwortet, die auch am berühmten Konzertsaal in Luzern mitbaute, an der neuen Pariser Philharmonie und am Musiktheater Linz. „Jetzt“, stellt Steven Sloane fest, „können wir für Fehler nicht mehr den Raum verantwortlich machen.“

20 000 Bochumer haben für ihr Konzerthaus gespendet

Von der Bühne aus sieht dieser übrigens ganz intim aus. Und dahinter ist alles funktional, konzentriert: Stimmzimmer, ein großer Aufenthaltsraum, hinter einer Glastür das Zimmer des Chef- oder Gastdirigenten. Auch die Verwaltung des Orchesters und seine Bibliothek sind im Haus. 70 Prozent der Veranstaltungen im großen Konzertsaal werden die „Bosys“ bestreiten; daneben werden hier auch andere Ensembles auftreten, aber nur „Non-Profit-Organisationen“. Das Musikforum Ruhr will, kann und soll kein Konkurrent sein zum Gastspielbetrieb in den benachbarten Konzerthäusern von Dortmund und Essen. Es ist ein Haus für die Stadt – und, zwischen Handyshops und Dönerbuden, mitten in der Stadt. Dass die nur 7,1 Millionen zum Bau beisteuern musste, ist ein kleines Wunder. 20 000 Bochumer haben es ermöglicht, indem sie mal größere, mal kleinere Beträge spendeten, der Lokalmatador Herbert Grönemeyer hat sich eingebracht, und fünf Millionen steuerte der Lotto-Unternehmer Norman Faber bei. Dessen Finanzspritze hat das Musikforum auch insofern geprägt, als sie an Bedingungen geknüpft war: Faber machte den Politikern Beine, er gab den Ausschlag für die Standort-Entscheidung, und er sorgte für die Gründung der Stiftung Bochumer Symphonie. In der Summe hat das Gebäude 38 Millionen Euro gekostet. Die Hamburger Elbphilharmonie kommt auf mehr als das Zwanzigfache (789 Millionen Euro).

Der Stuttgarter Beethovensaal ist häufig doppelt belegt

Geplant wurde das Musikforum von Architekten (Bez + Kock) aus Stuttgart. Aber nicht nur deshalb ist das Haus auch für die baden-württembergische Landeshauptstadt interessant. Seitdem das fusionierte SWR-Orchester seine Arbeit aufgenommen und komplett in die Liederhalle verlegt hat, ist die Diskussion um einen neuen Konzertsaal – früher als „Schlossgartenphilharmonie“ diskutiert – wieder aufgeflammt. Von „häufigen Doppelbelegungen“ des Beethovensaals spricht Norbert Hartmann, für die Liederhalle zuständiger Abteilungsleiter der Veranstaltungsgesellschaft in.stuttgart, und er meint damit, dass morgens ein Orchester probt und abends ein anderes auftritt. Dazwischen wird auf- und wieder abgebaut, und das betrifft immer wieder auch eine komplizierte Mikrofonierung. „Wir pressen die Zitrone Beethovensaal einfach noch mehr aus“, sagt Hartmann dazu.

Klar, um den Raum konkurrieren allein im Klassik-Bereich neben dem SWR-Symphonieorchester (zwei Mal zehn Abokonzerte, vier Mittagskonzerte) die Stuttgarter Philharmoniker (18 Konzerte), das Staatsorchester (zwei mal sieben Konzerte), die Internationale Bachakademie (zwei Mal fünf Konzerte) die Gastorchester der SKS Russ (zwanzig Konzerte, hinzu kommen zehn Abende der „Meisterpianisten“-Reihe), dazu noch ein paar Veranstaltungen der Kulturgemeinschaft und des Veranstalters Stuttgart Konzert. Proben muss man noch dazurechnen. „Die buchen wir alle umeinander herum“, beschreibt Hartmann die komplizierte Erstellung des Belegungsplans; dabei sei man „darauf angewiesen, dass Orchester und Konzertagenturen flexibel sind und auch mal miteinander tauschen“. In der Regel plant die Liederhalle vier Jahre im Voraus – so wie auch die Orchester. Rock- und Popkonzerte müssen sich wegen ihrer kürzeren Planungsvorläufe notgedrungen mit den Terminen zufriedengeben, die ihnen die Klassik am Ende noch übrig lässt.

Das SWR-Symphonieorchester hat in der Liederhalle keine Heimat

Aufbauen, abbauen: Nach fast einhundert Jahren ohne eigenes Haus müssen die Bochumer Symphoniker das jetzt nicht mehr tun– eine enorme Erleichterung. Die Pulte kann man stehenlassen, die Instrumente; man braucht keine Spedition mehr zu beschäftigen, die zwischen Proben- und Konzertsaal hin- und herfährt. Das gibt Energie, Kreativität: eine Riesenchance für das ohnehin schon sehr gute Orchester, sich weiterzuentwickeln. Eine solche Chance würde man auch dem SWR-Symphonieorchester wünschen, das noch zusammenwachsen muss und dem es auch aus sozialen Gründen gut täte, wenn es eine wirkliche Heimat hätte. Die zwei neuen Aufenthaltsräume, die man jetzt in der Liederhalle für die Musiker ausgebaut hat, können eine solche nicht bieten.

Doch das Riesenprojekt der Opernhaus-Sanierung absorbiert zurzeit das Interesse und den Finanzierungswillen der Politik. Da scheint auf den ersten Blick kein Platz zu sein für eine erneute Konzertsaal-Diskussion. Dabei könnte man beides sehr gut zusammendenken, wenn es an die Planung der Interimsspielstätte für die Oper während der auf etwa fünf Jahre veranschlagten Sanierung geht. Dieses Thema steht auch bei der nächsten Sitzung des Verwaltungsrats der Staatstheater am 14. November auf der Agenda – wobei die Politiker von Stadt und Land hier immer noch ausgesprochen zögerlich agieren und die Oper wohl zunächst erst einmal bitten werden, eine Art Nutzeranforderung für eine solche Spielstätte zu erstellen. Es gibt aber auch Politiker, die sich aktiver einbringen – wie etwa Martin Körner, SPD-Fraktionschef im Stuttgarter Gemeinderat, der im Oktober das Areal zwischen dem Planetarium und der Schillerstraße ins Gespräch brachte, also einen Platz am Rande dessen, was einmal Stuttgarts Kulturquartier werden sollte, dann aber nicht so recht werden wollte – unter anderem deshalb, weil Stuttgarts damaliger Oberbürgermeister Wolfgang Schuster die 80 Millionen Euro für die Überdeckelung der Konrad-Adenauer-Straße nicht alleine tragen wollte. Schuster war es auch, der mal für die Schlossgartenphilharmonie kämpfte und sogar die Idee gut fand, auf dem Stuttgart-21-Gelände ein Musikquartier nach Art der Pariser „Cité de la musique“ zu errichten – mit mehreren Räumen und (siehe Bochum!) mit Platz für die städtische Musikschule.

Eine Interimsspielstätte der Oper ließe sich nach der Sanierung als Konzertsaal nutzen

Diese Diskussion ist verebbt. Wie wäre es aber jetzt, nachdem die Idee eines Zelts über dem Eckensee abgelehnt wurde, mit einer Interimsspielstätte für die Oper, die später als variabler Saal für Klassik- und Popkonzerte genutzt werden könnte? So würde die Liederhalle entlastet, und Veranstalter müssten nicht mehr befürchten, dass ihre Künstler um Stuttgart einen Bogen machen, weil ihnen hier zwischen kleinen Clubs und großen Arenen kein angemessener Saal zur Verfügung steht. Außerdem schüfe man etwas Nachhaltiges, das die Kosten für die Interimsspielstätte rechtfertigen würde. Schließlich bezogen sich die im Sanierungsgutachten veranschlagten Kosten für das Ausweichquartier von elf Millionen Euro nur auf ein Provisorium auf der sogenannten „grünen Wiese“, die es in Stuttgart nicht gibt, und bei der Umwandlung einer Bestandsimmobilie betrügen die Kosten tatsächlich mindestens das dreifache. Also etwa so viel, wie das Musikforum Ruhr kostete. Dessen Beispiel zeigt nebenbei, dass bei einem derartigen Unterfangen profilierte Stimmen helfen: So wie Steven Sloane zur Gallionsfigur des Bochumer Konzertsaals wurde, könnten und sollten es auch die fast und demnächst ganz neuen Chefdirigenten der großen Orchester in Stuttgart werden, also Dan Ettinger, Cornelius Meister, der noch zu ernennende Leiter des SWR-Symphonieorchesters und vielleicht auch noch Hans-Christoph Rademann von der Internationalen Bachakademie. Sie sind die Leucht- und Leitfiguren der Musikstadt Stuttgart.

Die müsste sich allerdings zu etwas durchringen, das ihr nicht gerade naheliegt: zu einer selbstbewussten, großen Lösung. Es muss ja nicht gleich die Elbphilharmonie sein. Ein bisschen „Mia san mia“-Mentalität aus München wäre aber auch in Schwaben nicht schlecht. Dort wird, glauben wir Mariss Jansons, dem Chefdirigenten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (BR), auf dem ehemaligen Pfanni-Areal am Ostbahnhof für geschätzte 200 bis 300 Millionen Euro ein„fantastischer Konzertsaal in vielversprechender Umgebung“ entstehen, der spätestens 2021 fertig sein soll: eine – so BR-Intendant Ulrich Wilhelm – „einzigartige Verbindung von Lebensqualität, wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und kultureller Strahlkraft“. Mensch, Stuttgart: Think big!