Zum ersten Mal ist in den USA mehr Hip-Hop und R’n’B gehört und verkauft worden als klassische Rockmusik. Was mag das bedeuten?

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Am nächsten Samstag beginnen die Rolling Stones im Hamburger Stadtpark eine kleine Deutschlandreise. Es werden dann, unterstützt von vielen viel jüngeren Söldnerrockern im Hintergrund, im Rampenlicht vier dem Fürimmerjungfieber huldigende Senioren zu sehen sein, die ihre Auftritte gerade damit bewerben, dass sie zusammen fast 300 Jahre auf die Bretter bringen. Außer dem Gitarristen Ron Wood, der aber keine Gründungsmitglied ist, sind alle Original-Stones Weltkriegskinder. Im Ernst jetzt, dafür ist Woods mit siebzig zuletzt noch mal Vater geworden – was Mick Jagger kann, kann Woods eben auch.

 

Hipster-Tipp für die Tour: Wer 1275 Euro für einen Ganznahdran-Platz und das Gesamtpaket „Start me up“ ausgibt, bekommt, neben anderen feinen Merchandising-Produkten, einen Kunstdruck verehrt von der Band, deren Mitglieder einmal kollektiv behaupteten, sie seien arme Jungs (was nicht stimmte), und fragten, was solchen wie ihnen eigentlich anders übrig bleibe, als in einer Rock-Kapelle zu spielen. Aber wie auch immer, vielleicht sollte man wirklich noch mal vorbeischauen, denn es ist doch so: Der alte, weiße Mann im Rockpop hat langsam ausgedient und kann allmählich gehen.

Wer die Vorbilder waren

Aktuell bekräftigt wird diese schon länger kursierende These durch den „Nielsen-Music-Report“, der gerade in den USA veröffentlicht worden ist. Der Report zählt neben digitalen und analogen Verkäufen, wo also tatsächlich noch eine Plastikhülle physisch über den Ladentisch geht, auch die Streaming-Anbieter. Es ergibt sich zusammengezählt nun erstmals, dass in den Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr mehr Rhythm ’n’ Blues und Hip-Hop gehört und verstreamt worden ist als angestammte weiße Rockmusik.

Rihanna, Solange Knowles und Kendrick Lamar also anstatt der Rolling Stones, Strokes und Arctic Monkeys, plakativ gesagt. Wobei die Altrocker immer noch mehr klassische Alben verkaufen. Bei wem sie sich insgesamt zu bedanken haben, wissen sie dabei manchmal schon. Im vergangenen Jahr brachten die Stones – kommerziell geschickt, aber immerhin – allen schwarzen Vorbildern, von denen sie gelebt haben, auf „Blue & Lonsesome“ ein Ständchen: unter anderen Memphis Slim und Howlin’ Wolf. Womöglich war das ein Schwanengesang.

Erschütterte Männlichkeit

Es ist nämlich so, dass die Generation Streaming all die teuren Pakete (siehe oben) und Ego- und Retrofeiern, von denen der Rock so lebt(e), schlichtweg nicht mehr zu brauchen scheint, weil sich die Kommunikationsformen geändert haben, die mehr ins Offene und zur Zusammenarbeit tendieren. Dabei ist es, verkürzt gesagt, heutzutage einfach weniger interessant, welche Befindlichkeit der Künstler so hat. Interessanter ist, wie viele Menschen unterschiedlichster Provenienz und Orientierung daran partizipieren können.

Darüber hinaus ist der weiße Mann als Rocker an seinem Niedergang nicht ganz unschuldig, wie der Autor und Musikkritiker Jens Balzer in seinem Buch „Pop. Ein Panorama der Gegenwart“ messerscharf nachgewiesen hat: von der bereits erschütterten Männlichkeit Kurt Cobains über die Strokes („I Wanna Be Forgotten“) bis zu Pete Doherty zieht sich eine Linie von Leuten, die sich rein selbstbezüglich im Wege standen und stehen, derweil sich die famose R-’n’-B-Sängerin Solange Knowles (die Schwester von Beyoncé) zu Recht auf eine trotzig-stolze Position stellt, von der aus sie sich und ihre Songs weitaus eher vermittelt: „Wir gehören hierher. Wir haben das aufgebaut. Es ist unsere Musik“, schrieb sie in ihrem Blog, als zuletzt „A Seat At The Table“ herauskam. Dass schwarze Musik im immer rassistischer werdenden Amerika vermehrt wahrgenommen wird, ist also das eine. Das andere ist die Frage, wann der Männerrock konservativen Zuschnitts seine Schuldigkeit getan hat und raushumpeln kann. Prognose: Spätestens wenn die Stones keine überteuerten Messen mehr singen, ist es vorbei.