Die Stuttgarter Bachakademie ist im globalen Sog, ändert ihren Auftritt und diskutiert über den Reichtum.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Gestärkt mit „Freudengeist“, wie es im Schlusschoral der Kantate „Herr Jesu Christ, du höchstes Gut“ (BWV 113) heißt, standen die Mittagskonzertbesucher des Musikfestes in der Spätsommersonne vor der Stuttgarter Stiftskirche. Fast hätte man vergessen, von welchen finalen Lebensdingen zuvor sonst noch die Rede gewesen war. Bach vertont da: des Gottessohnes offene Wunden, unseren Todesschweiß und insgesamt das letzte Stündlein im Hemd ohne Taschen.

 

Mittendrin dann aber auch noch diese Frau. Auf den Knien rutschte sie über das Pflaster, mit einem Pappbecher in der Hand. „Bitte“, sagte sie. Mehr nicht. Unvermittelt schob sich die Welt vor die Weihe und das Leben wieder vor die Kunst, mit der man sich die Wirklichkeit mitunter hübsch vom Leib halten kann. Oder das Dasein sublimer gestalten. „Hände, streuet Gutes aus!“ (BWV 168), sagte der Blick der Frau, und der ein oder andere gab dann doch eine kleine Münze.

Überlebt nur, wer sich schnell anpasst?

Kurzer Exkurs: Im „Long Read“, einer Art Super-„Brücke zur Welt“ des englischen „Guardian“, erinnert diese Woche John Harris (während er darüber sinniert, ob die europäische Linke eine Zukunft habe) an eine geradezu missionarisch entflammte Rede von Tony Blair zur Globalisierung. Sie stammt aus dem Jahre 2005, und wenn man sie noch einmal liest, ist man erschrocken darüber, mit welcher Eiseskälte der Vorsitzende einer ehemaligen Arbeiterpartei da, Fortissimo, die Zukunftsmelodie sang: Die sich verändernde Welt, prophezeite Blair, werde sich „nicht mehr um Traditionen scheren“, gebe nichts auf das Ansehen der Vergangenheit. Überleben würden alle, die sich, ohne Schwäche zu zeigen, schnell anpassten. John Harris erinnert sich an sein damaliges Gefühl beim Hören der Rede, von dessen Richtigkeit er auch noch heute überzeugt ist: „Most people are not like that.“ So sind die meisten Menschen nicht. Denn sie haben ja noch, großes Wort, eine: Seele.

Wenn man so will, setzt die Stuttgarter Bachakademie in diesem Jahr an ungefähr diesem Punkt beim Musikfest ein. Um auf dem Weltmarkt bestehen zu können – als Marke, wie man hier sagen muss –, haben sich Chor und Orchester unter Hans-Christoph Rademann internationaler und flexibler besetzt und gleichzeitig auf Originalklang festgelegt. Das geht nicht ohne regionale Opfer ab, denn natürlich wohnen die Spezialisten nicht mehr alle ums Eck und neigen zur Großfamilienbildung.

Verbindungslinien werden betont, nicht gekappt

Gleichzeitig wertet die Akademie die Tradition aber auch auf, indem sie diese noch ernster nimmt als bisher schon. Verbindungslinien werden betont, nicht gekappt. Gleichzeitig besteht Erklärungsbedarf (bei neuen alten Techniken und alten neuen Klängen), und Rademann und seine Leute sind sehr bemüht, den noch vorhandenen ideellen Reichtum im Publikum zu nutzen: Es sind zumeist Besucher mit großer Hörerfahrung (tendenziell ältere Semester), die zum einen bereit sind, noch einmal neu Erfahrungen zu machen, zum anderen auch Geld dafür ausgeben wollen. Eine bis unters Dach ausverkaufte Stiftskirche unter der Woche versteht sich lange nicht mehr von selbst.

„Reichtum“ in allen seinen möglichen Formen (und vor allem: wie er vergeht) ist nicht von ungefähr das Thema in diesem Jahr. Was wird passieren, wenn Teile der noch stabilen Zuhörerschaft einmal nicht mehr da sind? Die alte Arbeitsgesellschaft der sozialen Moderne jedenfalls ist an ihr Ende gekommen, und das bedeutet gleichzeitig, wie in der L-Bank gesprächsweise der schwäbische Parteivorsitzende der Linken, Bernd Riexinger, festhalten sollte, dass die Zeiten, in der ebendiese Arbeit ein Garant war für soziale Sicherheit, vorbei sind. Und dann haben die Leute, selbst heute noch Interessierte, erst mal andere Sorgen als historisch korrekte Kantatenpflege. Womöglich.

Fördern Mäzene nur „ihre“ Künstler?

Es dauerte ein wenig, bis der gut vermittelnde Moderator Wieland Backes die schillernde Besetzung der Gesprächsrunde um Riexinger herum, unter anderen die Oetker-Erbin und Ex-Landtagsabgeordnete Rosely Schweizer und Christiane Lange, Direktorin der Stuttgarter Staatsgalerie, an dem Punkt hatte, auf den er eigentlich hinaus wollte: Wenn der reiche Mäzen (pars pro toto: Ein Daimler-Vorstand, merkte Riexinger an, verdiene das Zwanzigfache eines Facharbeiters) die Kunst fördert, wen fördert er da eigentlich? „Seinen“ armen Künstler, mithin eine Art illustren Privatbesitz? Lange hatte eine klare Antwort: Mäzene gebe es kaum noch (und wenn, wollten sie lieber gleich selbst ihr eigener Museumsdirektor werden). Sponsoren hingegen verlangten in der Regel „Gegenleistungen“.

Anders steht es mit dem rheinischen Unternehmerehepaar Michaela und Michael Wirtz, die der Internationalen Bachakademie das Geld zur Verfügung gestellt haben, um die 2013 in der Nähe von Riesa gefundene, nahezu kaputte Kastenorgel von Gottfried Silbermann (einem Zeitgenossen von Johann Sebastian Bach) durch die Orgelbauwerkstatt Kristian Wegscheider in Dresden nachbauen zu lassen. Die Wirtzens sind – wie der hiesige Unternehmer und Förderer Johannes Kärcher – der Meinung, dass es über den Weltwandel und das Geldverdienen hinaus noch etwas gibt, das sich nicht kaufen lässt: Spiritualität – und dass man ebendieser Spiritualität, je bewegter die Welt wird, Raum geben muss. Anlässlich einer anderen Schenkung hat Michael Wirtz daran erinnert, dass er es bis heute mit den Worten des aufrechten Protestanten und Presbyters Gustav Heinemann hält. Von dem stammt der unverändert gültige und Mut machende Satz: „Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren will.“