Nach dem Anschlag kehren viele Augenzeugen an den Ort des Schreckens zurück. Der Attentäter ist noch auf freiem Fuß – und die Berliner trauern.

Berlin - Zwölf Stunden nach dem Anschlag kehrt zumindest etwas Normalität ein. Auf Berlins Einkaufstraße Ku’damm öffnen die Geschäfte wie an jedem Tag, obwohl nur einen Steinwurf entfernt das Unfassbare passiert ist. Auch große Teile des Weihnachtsmarkts am Breitscheidplatz, wo am Montagabend um genau 20.02 Uhr ein schwerer Lastwagen in die Menschenmenge gerast ist, sind wieder zugänglich. Die Stände bleiben verschlossen. Doch die Berliner und die vielen Touristen können an den Buden vorbeischlendern, die Schilder mit Aufschriften wie diesen tragen: „Original Berliner Grünkohl“, „Eierpunsch“, „Kirmesleckereien“. Es ist ein beklemmendes Gefühl: Nur wenige Meter entfernt sind elf Menschen gestorben und rund 50 verletzt worden, viele davon schwer. Der Fahrer des polnischen Lkw, der entführt worden ist, war zum Zeitpunkt des Attentats schon tot.

 

Der Ort der Zerstörung ist am Tag danach durch weiße Sichtblenden abgeschottet. Polizisten sichern das Gelände. Über dem Schauplatz des Terrors haben die Behörden eine Drohne aufsteigen lassen, die das Unbegreifliche vermisst. Am Tag eins nach dem Schock kehren selbst diejenigen zurück, für die der Weihnachtsmarkt in der Nacht zuvor der Horror war. Ein weißhaariger Mittsechziger bleibt vor der Absperrung stehen und blickt mit Tränen auf die Holzbuden. Er selbst arbeitet an einem Stand, der knapp dem Desaster entgangen ist. Er habe einen großen Knall gehört, dann sei ein Mensch in die Tür hineingefallen. „Stehtische sind vorbeigeflogen wie Tornados“, erzählt der Herr mit belegter Stimme. Gleich danach sei das Licht ausgegangen. Reines Glück sei es gewesen, dass er und seine Gäste überlebt hätten. „Ich muss erst mal runterkommen“, sagt er.

„In was für einer Welt leben wir?“ fragt ein 15-jähriges Mädchen

Heute sei er hier, um das Geschehene zu begreifen – „wenn man sieht, wie viele Menschen gestorben sind“. Auch ein 15-jähriges Mädchen steht auf dem Platz herum. Einer ihrer Freunde hat hier gefeiert und liegt nun im Krankenhaus. „In was für einer Welt leben wir?“, fragt die Jugendliche.

Die Sicherheitsbehörden warnen zwar seit einiger Zeit davor, dass Weihnachtsmärkte und andere Orte mit Menschenansammlung gefährdet sind. Dennoch trifft der „Anschlag mit terroristischem Hintergrund“ die Hauptstadt überraschend, sagt der Generalbundesanwalt Peter Frank. Es zeigt sich aber schnell, dass Polizei und Rettungskräfte auf solche Großlagen vorbereitet sind. Zwei Minuten nachdem der Sattelschlepper auf den Weihnachtsmarkt gedonnert ist, gingen die ersten Notrufe bei der Polizei ein. Wenige Minuten später waren die ersten Einsatzkräfte vor Ort, insgesamt waren am Abend 550 Polizeibeamte im Einsatz, berichtet Berlins Polizeipräsident Klaus Kandt. Nach den Worten des obersten Chefs der Berliner Feuerwehr war schnell klar, dass es zu einem „Massenanfall an Verletzten“ gekommen ist. So heißen große Unglücke im Feuerwehrjargon. Sofort wurden die Krankenhäuser alarmiert und die Verletzten auf Kliniken überall in der Stadt verteilt.

Auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) zeigt sich angesichts der Ereignisse fassungslos. Auch er lobt aber die gut koordinierte und schnelle Arbeit von Polizei und Rettung. Noch am Abend des Anschlags haben Sicherheitskräfte die Lage unter Kontrolle gebracht – auch dank des sozialen Netzwerks Twitter. Die Berliner reagieren auf die Hinweise der Polizei, das Stadtgebiet zu meiden.

Eltern rufen ihre Kinder an und bitten sie, schnell nach Hause zu kommen

Doch schon am nächsten Tag nimmt die Unsicherheit wieder zu. Die Menschen sind beunruhigt, dass der oder die Täter möglicherweise noch frei herumlaufen und eine Waffe tragen. Als Berlins Polizeipräsident diese Möglichkeit erwähnt, verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Eltern rufen ihre Kinder an und bitten sie, nach der Schule schnell nach Hause zu kommen. „Wir müssen mit einem erhöhten Risiko rechnen“, sagt Holger Münch, Chef des Bundeskriminalamts. Er verleiht der Vermutung Ausdruck, dass islamistische Terroristen den Anschlag verübt hätten. Die Polizei wird von sofort an auf Straßen mit „robuster Präsenz“ erscheinen, wie es der Polizeipräsident ausdrückt. Das heißt: Beamte rücken mit Maschinenpistole und Schutzweste aus. Auch in den Bundesministerien wird die Sicherheitsstufe erhöht.

Klar ist zu diesem Zeitpunkt, dass der polnische Sattelschlepper von dem oder den Attentätern entführt worden ist. Der Fahrer des Lkw wurde erschossen. Die Tatwaffe ist noch nicht gefunden worden, weshalb die Polizei damit rechnen muss, dass der Täter die Waffe noch bei sich trägt. Die hohe Zahl von Toten und Verletzten ist nur dadurch erklärbar, dass der Lastwagen 60 bis 80 Meter über den Weihnachtsmarkt fahren konnte. Er kommt erst auf der Budapester Straße hinter dem Weihnachtsmarkt zum Stehen.

Die Bevölkerung reagiert bisher gefasst

Für Berlins Bürger ist es ein Wechselbad der Gefühle. Zunächst sah es so aus, als sei der Täter schnell gefasst worden. Das wirkte beruhigend. Die Polizei nahm schon eine Stunde nach dem Anschlag einen Tatverdächtigen fest. Ein Besucher des Weihnachtsmarkts sah, wie der Lkw-Fahrer aus dem Fahrzeug stieg und verfolgte ihn ein Stück weit. Doch nach Darstellung von Generalbundesanwalt Peter Frank war die Verfolgung nicht lückenlos. Streifenbeamte nahmen in einiger Entfernung einen Verdächtigen fest, es soll sich um einen pakistanischen Staatsbürger handeln, der als Asylbewerber nach Deutschland eingereist ist. Am Dienstagabend teilte die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe mit, die bisherigen Ermittlungsergebnisse hätten keinen dringenden Tatverdacht gegen den Beschuldigten ergeben – er wurde wieder auf freien Fuß gesetzt.  

Die Bevölkerung reagiert bisher gefasst. Ein riesiges Plakat begrüßt die Blechkarawane im Berufsverkehr am Alexanderplatz. „Frohe Weihnachten Berlin!“ ist darauf zu lesen – eine Botschaft aus einer anderen Welt. Das Herz der Stadt wurde in der vergangenen Nacht verwundet, und die meisten Berliner denken auf ihrem Weg in die Arbeit darüber nach, was das für ihr Leben bedeutet. „Wir Schausteller sind ja schon eine Gemeinschaft. Mir war ganz schlecht gestern Abend“, sagt Jasmina (Namen geändert), die zusammen mit Kollegen auf dem Weihnachtsmarkt am Gendarmenmarkt eine Bude mit Christbaumschmuck betreibt. Der Markt hat am Dienstag seit 10 Uhr geöffnet, der Veranstalter hat das am frühen Morgen beschlossen, und Jasmina stimmt zu: „Aus Geschäftsgründen muss man das schon machen, und außerdem muss es ja weitergehen, aber trotzdem bleibt ein schlechtes Gefühl.“

Die Behörden fürchten Nachahmungstäter

Die zwei jungen Polizisten, die an den Ständen vorbei patrouillieren, geben sich keinen Illusionen hin. „Wir machen hier Öffentlichkeitsarbeit. Wenn einer hier mit dem Lastwagen reinbrettert, was soll ich dann machen mit meiner Knarre?“ 30 Beamte sind heute hier im Einsatz. Berlins Innensenator kündigt später an, dass vor den Weihnachtsmärkten Poller und Klötze aufgestellt werden sollen. Die Behörden fürchten Nachahmungstäter. An diesem Tag teilen viele Berliner dieses Gefühl, der Alltag könnte von einer Sekunde auf die andere zerbrechen. Trotzdem bleiben die meisten nicht zu Hause. Fünf ältere Damen schlendern über das Kopfsteinpflaster des Weihnachtsmarkts und schauen sich um. „Wir kommen seit zehn Jahren hierher, das lassen wir uns jetzt nicht nehmen.“ Dennoch denken sie an den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, wo sie alle dieses Jahr auch schon waren – Karussell fahren mit ihren Enkeln oder Glühwein trinken mit Freunden. Zum Shoppen, sagen sie, werden sie wohl jetzt keine Lust mehr aufbringen.

Die meisten Touristen lassen sich allerdings nicht beirren. Was sollen sie auch sonst machen, sagt der Souvenirverkäufer Unter den Linden. Es sei ein wenig ruhiger als sonst, aber das könne auch am kalten Wetter liegen. Gisela Ratke bestätigt das. Die Servicekraft im Souvenirgeschäft im Brandenburger Tor sieht wenig Veränderung beim Touristenstrom. „Die haben alle schon gebucht. Sollen sie jetzt in ihren Hotelzimmern sitzen bleiben wegen so einem Spinner?“ Die Leute würden aber schon nach der Situation fragen und sich erkundigen, ob man vor Ort Blumen niederlegen könne. An vielen Stellen um den Anschlagsort herum sind Blumen niedergelegt worden. Jemand hat einen Teddybären hinterlassen mit einem Zettel und der Aufschrift „Porqué?“ – „warum?“.

Um 13.30 Uhr werden alle Berliner Weihnachtsmärkte geschlossen

Die Kanzlerin, der Außenminister und andere Politiker besuchen am späten Nachmittag den Ort des Anschlags. Stunden zuvor, mittags um 13 Uhr, sind dort vor allem jene Menschen unterwegs, die in ihrer Ratlosigkeit hierhergekommen sind, um sich irgendwie auszudrücken, Anteilnahme zu zeigen. Unmittelbar neben dem Anschlagsort liegt die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die Pfarrerin Dorothea Strauß hält dort eine Mittagsandacht. Die Besucher zünden Kerzen an, halten inne.

Zeitgleich mit der Nachricht, dass der Attentäter noch frei herumlaufen kann, wird bekannt, dass um 13.30 Uhr alle Berliner Weihnachtsmärkte geschlossen werden. Offiziell aus Respekt und Anteilnahme für Opfer und Angehörige. Der Alltag in Berlin hat einen großen Riss bekommen.