Die Menschen in Großbritannien versuchen, sich mit dem Ergebnis des Referendums zu arrangieren. Während die Brexit-Befürworter jubeln, will bei den meisten Briten keine Feierlaune aufkommen.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Newcastle - Historisch! Es gibt nicht viele Tage in der Geschichte eines Landes, die dieses Prädikat tragen dürfen. In Großbritannien sind sich alle Kommentatoren einig, dass der 23. Juni 2016 ein solches Datum ist. „Das ist der Tag, an dem wir unsere Unabhängigkeit zurückerobert haben“, jubelt ein aufgekratzter Nigel Farage in die Mikrofone. Er ist einer der führenden Köpfe der Brexit-Kampagne. Die Briten haben in seinen Augen einen gloriosen Sieg gegen das übermächtige Brüssel davongetragen, sie haben für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Doch bei den meisten Menschen will keine Feierlaune aufkommen.

 

Am Morgen nach dem Referendum hat sich eine bleischwere Ratlosigkeit über das Land gelegt. Was wird nun passieren? Die Gespräche in den Geschäften, am Kiosk, auf den Straßen drehen sich nur um das eine Thema: Brexit. „Ich bin gestern zufrieden zu Bett gegangen und heute in einem andern Land aufgewacht“, sagt eine Frau in der Warteschlange an einer Bushaltestelle in Newcastle, schüttelt den Kopf und kann es offensichtlich noch immer nicht begreifen, was in den vergangenen Stunden passiert ist. Das Votum aus dem fernen Gibraltar habe sie im Fernsehen noch mitbekommen. Dort haben sich 95,9 Prozent der Briten für den Verbleib in der EU entschieden. „Da war ich beruhigt“, sagt die Frau, „denn warum sollten wir anders entscheiden?“

Die Menschen wollen wissen, warum sich die Mehrheit für den Brexit entschieden hat

In den TV-Sendungen tragen kluge Experten immer wieder ihr Wissen zur Schau, doch die erhoffte Antwort auf die wirklich wichtigen Fragen hat keiner von ihnen parat. Die einfachen Menschen wollen keine Analysen mehr hören, sie wollen nicht wissen, warum sich die Mehrheit ihrer Landsleute für den Brexit entschieden hat, sie wollen wissen, wie es nun weitergeht mit ihrem Land. Großbritannien hat sich für ein gigantisches Experiment entschieden – ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Das muss erst einmal verkraftet werden.

„Der Markt hat seine Antwort gegeben“, sagt Mark Armstrong. Das britische Pfund ist schon in der Nacht nach den ersten guten Ergebnissen für die Brexit-Befürworter auf eine dramatische Talfahrt gegangen. „Das sind keine guten Zeichen.“ Am Morgen musste der Hotelmanager aus Newcastle seine Frau aufmuntern: „Sie saß völlig verstört am Frühstückstisch und starrte Löcher in die Luft.“ Er selbst hatte am Tag vor dem Referendum noch gehofft, dass die Briten mit „mindestens 60 Prozent“ für den Verbleib in der EU stimmen würden. „Alles andere möchte ich mir nicht vorstellen“, hatte er dazu lachend erklärt.

Der Brexit als heilsamer Schock?

Doch nun ist das Unvorstellbare mit allergrößter Wucht eingetreten, und Mark Armstrong versucht, der Situation irgendeine positive Seite abzugewinnen. „Es ist ein großer Schock, aber ich will optimistisch bleiben.“ Für die EU könne das Ergebnis sogar heilsam sein, sie könne sich reformieren, zu neuen Ufern aufbrechen. Und für Großbritannien? Mark Armstrong zögert, auf diese Frage hat er keine befriedigende Antwort. Da ist sie wieder, diese bleischwere Ratlosigkeit. „Man muss die Menschen fragen, die für den Brexit gestimmt haben“, murmelt er kopfschüttelnd, „vielleicht wissen die ja weiter.“

Die „Brexiter“ wohnen in Sunderland. Die kleine Stadt an der Küste ist von Newcastle aus bequem mit der Metro zu erreichen. 61,3 Prozent der Wähler haben dort für den Austritt aus der EU gestimmt, nur 38,7 Prozent waren für „remain“. Das ist schwer zu verstehen, denn am Stadtrand von Sunderland – verkehrsgünstig an der Kreuzung der A 19 und A 1231 gelegen – hat der Autobauer Nissan eine riesige Fabrik in die Landschaft gestellt. Rund 6000 Menschen finden dort Arbeit. Es heißt, dass fast die Hälfte der 170 000 Einwohner zählenden Stadt in irgendeiner Weise von dem international agierenden Konzern lebt.

Die Entscheidung war bei vielen eine Bauchentscheidung, keine Kopfsache

„Ich habe für den Brexit gestimmt“, sagt Wanda fast trotzig. Die Frau betreibt in der Station Street einen kleinen Kiosk, hat die „guten Zeiten“ Sunderlands miterlebt – und auch den unaufhaltsamen Niedergang in den vergangenen Jahrzehnten. Zuerst gingen die Schiffswerften pleite, dann schloss 1994 das letzte Kohlebergwerk und schließlich machte vor knapp 15 Jahren die große Brauerei Vaux dicht. Der Stolz von Sunderland hatte sich in nichts aufgelöst, die Stadt ist seitdem nicht mehr aus dem Zustand der permanenten Depression erwacht. Selbst der Fußballclub ist nur noch ein trübes Abbild der alten Zeiten und dümpelt mehr schlecht als recht am Tabellenende der Premier League.

„Natürlich ist es gut, dass Nissan hier ist“, sagt Wanda mit einer vom vielen Rauchen heiseren Stimme. Das Werk gebe sehr vielen Menschen Arbeit. Was ihr aber offensichtlich fehlt, ist die Möglichkeit, sich mit ihrer Heimat zu identifizieren, stolz auf die eigene Leistung zu sein. Ein japanischer Automobilhersteller taugt dazu herzlich wenig. Wandas Brexit-Entscheidung ist eine Bauchentscheidung, keine Kopfsache.

Sogar der Europa-Chef von Nissan hat sich vor einem Brexit gewarnt

Natürlich war das Nissan-Werk auch einer der Streitpunkte in den schlammschlachtartigen Auseinandersetzungen vor dem Referendum. Richard Elvin, Ukip-Mann und treibende Kraft hinter der „Leave Sunderland“-Kampagne, giftete denn auch am Tag nach der Abstimmung in Richtung EU-Befürworter: „Das ist die gerechte Strafe für die Panikmache wegen Nissan.“

Immer wieder war von den „Remainern“ gewarnt worden, dass der Konzern seine Produktion aus Sunderland abziehen oder stark drosseln könnte, sollte die Wahl nicht in ihrem Sinne ausgehen. Äußerst ungewöhnlich war, dass sich kurz vor dem Referendum sogar Nissans Europa-Chef Paul Willcox zu Wort meldete. Man halte sich für gewöhnlich aus politischen Fragen heraus, hieß es diplomatisch, aber Großbritannien befinde sich in einer ungewöhnlichen Situation, sagte der Manager. „Wir haben eine kristallklare Position. Als Weltkonzern mit einer starken Präsenz in Europa, bevorzugen wir es, dass Großbritannien in der EU bleibt.“

Die Brexit-Befürworter haben den Nerv vieler Menschen getroffen

Paul Willcox sprach in diesem Fall nicht nur für sein Unternehmen. Der Dachverband der britischen Automobilbauer ließ die Brexit-Befürworter im Vorfeld wissen, dass an der Autoindustrie in Großbritannien rund 800 000 Jobs hängen und dadurch jedes Jahr mehr als 15 Milliarden Pfund zur heimischen Wirtschaft beigetragen werden. 80 Prozent der Exporte gehen ins Ausland, heißt es weiter, davon 40 Prozent in die EU. „Bla, bla, bla, das ist alles, was die da oben können“, redet sich Wanda in Rage. „Nissan hat hier so viel investiert, die werden nicht so einfach abziehen“, ist sie überzeugt. „Wenn die in einem andern Land billiger produzieren können, gehen sie sowieso dorthin.“ Und wieder spricht aus ihren bissigen Sätzen der verlorene Stolz einer einstigen Weltmacht, die zwei Weltkriege gewonnen hat und sich nun doch auf der Verliererseite sieht.

Die Brexit-Befürworter haben diesen Nerv getroffen und Menschen wie Wanda eine Stimme gegeben. Slogans wie „Make Britain great again“, fielen auf fruchtbaren Boden. Dass dahinter wenig Substanz steckte, fiel in den schrillen, emotionsgeladenen und mit harten Bandagen geführten politischen Auseinandersetzungen wenig ins Gewicht.

Keine Panik – die Situation soll erst einmal in Ruhe analysiert werden

„Nun müssen wir mit der Situation umgehen“, sagt Mark Armstrong aus Newcastle. „Wichtig ist jetzt, nicht in Panik zu verfallen und die Situation in Ruhe zu analysieren.“ Draußen in der Westgate Road hat es nach einer Woche strahlenden Sonnenscheins begonnen zu regnen, das Wasser läuft in grauen Schlieren an der großen Fensterfront des Hotels hinunter. „Die schönen Tage sind vorüber“, murmelt Armstrong und blickt versonnen auf die Straße. Er lässt offen, ob das auch eine politische Aussage ist.