Die Türkei ist für Deutschland von eminenter Bedeutung, nicht erst seit der Flüchtlingskrise. Millionen Türken leben hier. Unruhen wären ein Sicherheitsrisiko – ein Gefahrenpotenzial auch für Merkel, kommentiert StZ-Redakteur Armin Käfer.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Recep Tayyip Erdogan und Angela Merkel sind keine Freunde – und sie werden es auch nicht mehr werden. Dennoch zählt der türkische Präsident zurzeit zu den wichtigsten Gesprächspartnern der Bundeskanzlerin. Die Flüchtlinge, der Bürgerkrieg in Syrien, Visafreiheit, der Streit über den Völkermord an den Armeniern – es gibt viele Gründe für einen intensiven Austausch. Persönlich traf die Kanzlerin Erdogan zuletzt beim Nato-Gipfel vor einer Woche in Warschau. Binnen kurzer Frist war sie fünfmal in der Türkei. Mit wenigen Staatsmännern pflegt sie einen engeren Dialog, allenfalls mit Barack Obama und François Hollande.

 

Die innigen Kontakte haben im Falle Erdogans wenig mit persönlicher Sympathie zu tun, schon gar nicht mit einer gleichen politischen Wellenlänge. Merkel und der Mann am Bosporus könnten verschiedener kaum sein. Doch die Türkei ist von eminenter strategischer Bedeutung für Deutschland, nicht erst seit Hunderttausende von Flüchtlingen das Land als Transitstrecke benutzen. Immerhin leben hier drei Millionen Menschen, die ihre Wurzeln in der Türkei haben, die Hälfte davon sind türkische Staatsbürger. Unruhen in ihrer Heimat hätten unmittelbare Folgen auch für die Bundesrepublik. Es geht auch um ganz konkrete Sicherheitsfragen. Geschätzt wird, dass sich jetzt, zu Beginn der Hauptreisezeit, mehr als 100 000 deutsche Touristen in der Türkei aufhalten. Zudem sind Bundeswehrsoldaten dort stationiert.

Die Kanzlerin ermahnt Erdogan

Die Kanzlerin hat sich nach dem Putschversuch sehr lange Zeit gelassen mit einem persönlichen Kommentar. Sie war im Ausland unterwegs. Noch in der Nacht ließ sie ihren Regierungssprecher Steffen Seibert allerdings „Unterstützung für die gewählte Regierung“ in Ankara signalisieren. Ähnlich äußerte sich Außenminister Frank-Walter Steinmeier. „Alle Versuche, die demokratische Grundordnung der Türkei mit Gewalt zu verändern, verurteile ich auf das Schärfste“, sagte er am Samstagmorgen in Berlin. Alle Beteiligten müssten sich „an die demokratischen und rechtsstaatlichen Spielregeln halten“, forderte der Minister.

Merkels selbst äußerte sich erst am Samstagnachmittag nach der Rückkehr von einem Treffen mit asiatischen Staaten in der Mongolei. Die Kanzlerin verurteilte den Umsturzversuch „aufs Schärfste“. Sie nannte es „tragisch“, dass Menschen dabei ihr Leben lassen mussten. Die nachfolgenden Sätze waren auch als dringende Mahnung an ihren unliebsamen Partner Erdogan zu verstehen. Das Blutvergießen müsse ein Ende haben, mahnte Merkel. Gerade im Umgang mit den Putschisten „kann und sollte sich der Rechtsstaat beweisen“. Dass auch die Kanzlerin selbst lieber mit anderen als mit Erdogan die gemeinsamen Anliegen besprechen würde, lässt sich aus weiteren Formulierungen schließen. Mit Blick auf den gewaltsamen Versuch, den Präsidenten zu stürzen, sagte sie: Für politische Veränderungen müsse im Rahmen der verfassungsmäßigen Institutionen und „gemäß demokratischer Regeln“ geworben werden. Bemerkenswert an diesem Satz ist, dass eine solche Werbung im weitesten Sinne als Aufruf zur Abwahl Erdogans verstanden werden könnte.

Enge Beziehungen seit Kaisers Zeiten

Die engen Verbindungen Deutschlands mit der Türkei haben eine lange Tradition. Sie reichen zurück bis in die Zeiten des Osmanischen Reiches, dessen Schicksal mit dem Ersten Weltkrieg besiegelt war. Das wilhelminische Deutschland war Waffenbruder und ein bevorzugter Wirtschaftspartner der Sultane.

Auf der politischen Weltkarte hat Ankara für die Bundesregierung inzwischen eher noch ein größeres Gewicht. Die Türkei gehört der Nato an, und zwar schon länger als Deutschland. 1952 traten die Türken dem Verteidigungsbündnis bei, drei Jahre später die Bundesrepublik. Aktuell gibt es einen Konflikt über den Einsatz deutschen Militärs im Osten der Türkei. Dort sind derzeit in der Kleinstadt Incirlik 250 Bundeswehrsoldaten sowie Kampfjets und ein Tankflugzeug stationiert. Sie startet von da zu Aufklärungs- und Tankflügen über Syrien und dem Irak im Kampf gegen die Terrormiliz IS. Der türkische Präsident verweigerte deutschen Abgeordneten, die Bundeswehr in seinem Land zu besuchen – eine Trotzreaktion auf den Bundestagsbeschluss zum Völkermord an den Armeniern. Das war auch der Grund für Merkels letztes Treffen mit Erdogan. Wegen des Besuchsverbots hatten führende Politiker bereits mit einem Abbruch des Hilfseinsatzes gedroht, darunter Vizekanzler Sigmar Gabriel und Bundestagspräsident Norbert Lammert. Die Regierung in Ankara ließ den Luftwaffenstützpunkt Incirlik am Samstag abriegeln. Die Stromversorgung wurde unterbrochen, der türkische Kommandant festgenommen. Den Soldaten wurde aus Sicherheitsgründen untersagt, den Standort zu verlassen.

Berlin befürchtet, Erdogan könnten noch autoritärer regieren

Der Streit über das Besuchsverbot in Incirlik ist nur eine von vielen Konflikten, die das Verhältnis beider Länder belasten. Dabei hätte Deutschland ein massives Interesse an reibungsfreien Beziehungen. Die Türkei ist aufgrund ihrer geografischen Lage ein Nadelöhr für Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten auf ihrem Weg nach Europa. Im Frühjahr verständigte sich die Europäische Union mit Erdogan über ein Verfahren, um den Zustrom zu begrenzen. Seitdem spielen die Türken Grenzwächter für Europa und blockieren die Balkanroute.

Auch aus diesem Grund ist Deutschland an Stabilität in der Türkei gelegen und an einer verlässlichen Regierung in Ankara. Das Verhältnis der beiden Staaten war ohnehin schon prekär. Durch den Putschversuch haben sich die Dinge weiter verkompliziert. In Berlin herrscht die Sorge vor, dass Erdogan jetzt noch autokratischer regieren wird, noch weniger berechenbar und kompromissbereit sein könnte. Er darf sich am Ende gestärkt fühlen. Zudem dürfte er sich ermuntert sehen, die Opposition weiter zu kujonieren, innenpolitische Gegner wie die um Autonomie ringenden Kurden zu bedrängen. Das wäre dann genau das Gegenteil von einem Kurs der Versöhnung, auf den in Deutschland trotz allem noch einige gehofft hatten. Die Türkei würde damit noch tiefer gespalten. Weitere Anschläge könnten die Folge sein. Mit der Stabilität in der Türkei könnte auch der Flüchtlingspakt ins Wanken geraten.

Zu befürchten ist zudem, dass der innenpolitische Konflikt aus der Türkei nach Deutschland importiert wird. Unter hier lebenden Türken und Menschen, deren Vorfahren von dort stammen, sind Gegner und Anhänger Erdogans tief zerstritten. Mehrere Tausend Türken zogen in der Nacht auf Samstag vor die Botschaft am Berliner Tiergarten sowie vor die Konsulate in anderen deutschen Städten. Sicherheitsexperten haben schon seit längerer Zeit die Sorge, dass es wegen des innertürkischen Konflikts auch in Deutschland einen Anschlag geben könnte.