Helmut Schmidt war ein Zeitanalytiker von bestechender Klarheit. Als Bundeskanzler musste er das Land durch innenpolitische und weltwirtschaftliche Krisen führen. Jetzt ist er im Alter von 96 Jahren gestorben.

Hamburg - Als der Bundesparteitag der SPD im Frühjahr 1998 Gerhard Schröder zum Kanzlerkandidaten nominierte, gab ihm Helmut Schmidt die Worte mit auf den Weg: „Ich wünsche dir Tapferkeit, das Notwendige auch dann zu tun, wenn es zunächst unpopulär ist. Ich wünsche dir eine Partei und Fraktion, die zugleich kritisch und loyal ist – und die nie vergisst, dass es für sie leichter ist, Programme zu verfassen, als für den Kanzler, dieselben zu verwirklichen.“ Es schien, als habe Helmut Schmidt über sich selbst und seine Zeit gesprochen. In den Jahren seiner Kanzlerschaft zwischen 1974 und 1982 hatte er sich nie gescheut, auch unpopuläre Themen anzupacken, aber Partei und Fraktion ließen es an Loyalität fehlen, wenn er sie am dringendsten gebraucht hätte.

 

Andere Kanzler werden mit großen Themen in Verbindung gebracht. Konrad Adenauer mit der Westbindung, Willy Brandt mit der Ostpolitik und Helmut Kohl mit der Wiedervereinigung. Für Helmut Schmidt gab es dieses große Thema nicht, er hatte Krisen zu bewältigen. Als er im Frühjahr 1974 in der Nachfolge Willy Brandts Bundeskanzler wurde, erlebten die westlichen Industrieländer ihren ersten Ölpreisschock. Das Großkartell der Ölexporteure hatte schlagartig den Preis pro Barrel Öl von 2,1 auf 35 Dollar hochgetrieben. Damit endete das Zeitalter der billigen Energie. Für den westdeutschen Sozialstaat, der in der Ära Brandt kräftig ausgebaut worden war, konnte das nicht ohne Folgen bleiben. In seiner ersten Regierungserklärung mahnte Schmidt: „Wir müssen unsere Kräfte auf das Mögliche konzentrieren. Mit Visionen kommen wir nicht weiter.“ Seine Partei, die Willy Brandt nachtrauerte, hörte diese Töne nicht gerne, sie vermisste darin das sozialdemokratische Herz.

Ein kühler Rationalist

Helmut Schmidt war Ökonom, ein kühler Rationalist, der mit den irrationalen Kräften in der SPD nur schwer zurechtkam. Andererseits war es für die Republik ein Glücksfall, in jenen Tagen, in denen die Konjunktur einbrach und die Inflation auf sieben Prozent stieg, einen Mann an der Spitze zu haben, der sich nicht als visionärer Politiker, sondern als Krisenmanager verstand. Eine Republik, in der es bisher fast nur aufwärts gegangen war und die viele soziale Wohltaten erfuhr, bekam nun gesagt, das Wünschbare sei selten das Machbare und Pläne müssten finanzierbar sein. Seiner Partei, der SPD, die nicht wahrhaben wollte, dass es nicht länger um den Ausbau des Sozialstaates, sondern um Anpassung an schwierigere Bedingungen ging, hielt er entgegen: „Ihr beschäftigt euch mit der Krise des eigenen Gehirns statt mit den ökonomischen Bedingungen.“

War Helmut Schmidt überhaupt ein überzeugter Sozialdemokrat? Immer wieder wurde behauptet, eigentlich sei er in der falschen Partei, sei nur aus Versehen bei den Sozialdemokraten. Tatsächlich blieb Schmidt seiner Partei kritisch verbunden, er hat sich nie abfällig über sie geäußert, weder in seinen schwierigen Kanzlerjahren noch danach als Publizist. In der Kriegsgefangenschaft war der junge, bis dahin eher unpolitische Offizier dem Pädagogen und religiösen Sozialisten Hans Bohnenkamp begegnet. Es muss eine tiefe Prägung gewesen sein, denn schon 1946 trat er in die SPD ein, auch aus Bewunderung für Kurt Schumacher.

Als Innensenator kämpfte er gegen die Flutkatastrophe

Nach dem Studium der Volkswirtschaft machte Schmidt rasch Karriere, saß 1953 schon im Bundestag, wo er durch seine scharfen Attacken gegen Adenauer und Strauß auffiel und das Etikett „Schmidt-Schnauze“ angeheftet bekam. Als Innensenator seiner Heimatstadt Hamburg kämpfte er entschlossen gegen die Flutkatastrophe von 1962 und minderte deren Folgen durch unbürokratisches Handeln. Durch seine zupackende Art, die sich in der Stunde der Not um Kompetenzen und rechtliche Grenzen nicht kümmerte, hat er wohl viele Menschenleben gerettet.

Zurück im Bundestag wurde er nach dem Tode Fritz Erlers Fraktionsvorsitzender und arbeitete dann in dieser Funktion während der Großen Koalition mit seinem Pendant Rainer Barzel auf der Basis gegenseitigen Respekts gut zusammen. In der Regierung Brandt wurde Schmidt Verteidigungsminister und übernahm dann, nach dem Rücktritt Karl Schillers, 1972 das Wirtschafts- und Finanzressort. Damit galt er als der zweite Mann im Kabinett Brandt.

Die Frage, ob er am Rücktritt Willy Brandts beteiligt war, muss man wohl verneinen. Eher scheint er ihm zum Bleiben geraten zu haben. Er ahnte wohl schon, was als Nachfolger auf ihn zukommen würde. Schließlich war Karl Schiller gegangen, weil ihm die Genossen zu spendabel waren und keine Haushaltsdisziplin übten. Als Bundeskanzler stand Schmidt von Anfang an im Schatten einer weltweiten Rezession, der Schmidt auf seine Art zu begegnen versuchte. Der Weltwirtschaftsgipfel, der auf seine Initiative zurückgeht, fand erstmals 1978 in Bonn statt.

Die Schleyer-Entführung als schwerste Zeit im Amt

Sein Bemühen um wirtschaftliche und soziale Stabilität – das Wort Reformen vermied er – fiel in eine Zeit, in der die Regierung auf ganz andere Weise herausgefordert wurde – durch den RAF-Terrorismus. Schon den Austausch des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz, dem er zunächst zugestimmt hatte, hat Schmidt später für einen Fehler gehalten. Die freigepressten Terroristen waren nach Deutschland zurückgekehrt und verstärkten die RAF. Der Staat, das war Schmidts Überzeugung, durfte sich nicht noch einmal erpressen lassen. Die Nagelprobe kam mit dem Überfall auf die Botschaft in Stockholm und dann mit der Entführung Hanns Martin Schleyers. Später sollte er bekennen: „Es war die schwerste Zeit, die ich als Politiker, als Bundeskanzler erlebt habe.“ Zwar konnte er die Geiseln von Mogadischu retten, nicht aber das Leben Schleyers, mit dem er befreundet war. Obwohl er sich objektiv nicht schuldig gemacht hatte, plagte ihn danach ein Gefühl der großen Schuld, des Versagens.

Das hing auch mit seiner Auffassung von Politik zusammen. Moral und Verantwortung, so sagte er einmal, „kann nicht beim Staat, sondern nur in Personen liegen“. Den von ihm hoch geschätzten Philosophen Karl Popper nannte er einmal einen „Lehrer der persönlichen Verantwortung“. Das konnte bedeuten: sich rechtfertigen, notfalls gar abtreten zu müssen. Mit diesem Verständnis hätte Schmidt seinen Abgang nach einem Fehlschlag in Mogadischu begründet. Schon als die Kanzlerschaft 1974 auf ihn zulief, hatte er „Angst vor dem Amt, genauer gesagt, Angst vor der Verantwortung“. Es hat wohl keinen Politiker in der Bundesrepublik gegeben, der sein Handeln derart ethisch-philosophisch zu begründen versuchte. Allerdings redete er nicht gern darüber. Marion Gräfin Dönhoff sagte über ihn: „Was ihn tief in seinem Innersten bewegt, habe ich nie erfahren.“ Dabei kannte sie ihn gut, hatte sie doch wesentlich dazu beigetragen, dass Schmidt nach seiner Abwahl 1982 Mitherausgeber der „Zeit“ wurde und eine rege publizistische Wirksamkeit entfalten konnte.

Ein weiser Mahner und Zeitanalytiker

Gescheitert ist dieser Kanzler letztlich an seiner Überzeugungstreue, an seinem Bemühen, das für richtig Erkannte durchzusetzen, auch wenn es unpopulär war. Dazu gehört sein Eintreten für den Nato-Doppelbeschluss, mit dem einer sowjetischen Vorrüstung mit Kurzstreckenraketen begegnet werden sollte. Seine Partei hat ihn dabei im Stich gelassen wie zuvor schon in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Am Ende sprang der Koalitionspartner FDP ab. Zwar hat Regierungssprecher Klaus Bölling versucht, den Liberalen die Schuld am Sturz des Kanzlers zuzuschieben, aber die Wahrheit ist das nicht.

Als weiser Mahner und Zeitanalytiker erlebte Helmut Schmidt eine zweite Karriere. In der Rolle des Elder Statesman war er konkurrenzlos. Seine autobiografische Bilanz „Außer Dienst“ wurde ebenso zu einem Erfolgsbuch wie seine Gespräche mit dem Altersgenossen Fritz Stern über „Unser Jahrhundert“. Und auch die eher lockeren Unterhaltungen mit dem „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo „Auf eine Zigarette“ nahmen die Leser gerne an. Hoch geschätzt, ja geradezu geliebt haben die Deutschen das Ehepaar Helmut und Loki Schmidt. Es hatte mehr als nur Vorbildcharakter. Nach fast siebzig Jahren Ehe starb Loki Schmidt im Oktober 2010. „Loki hatte keine Angst vor dem Tod“, sagte Helmut Schmidt nach ihrer Beisetzung, „und ich habe sie auch nicht“.