Peter Härtling hat mit seinem Schreiben Erwachsene und Kinder gleichermaßen beglückt. Er war Melancholiker und Skeptiker zugleich, vor allem aber Menschenfreund. Nun ist er mit 83 Jahren gestorben.

Stuttgart - Er war ein Genussmensch, einer, der die Freuden des Lebens liebte – vielleicht deswegen, weil er sie sich so hart erkämpfen musste. Peter Härtling, Jahrgang 1933, gebürtig aus Chemnitz, nach dem Tod des Vaters in sowjetischer Gefangenschaft und dem Selbstmord der Mutter früh verwaist – er hat in seinen Erinnerungen „Leben lernen“ geschildert, wie mühsam für ihn dieser Weg war: Sich zu finden, zu sich zu kommen, eine Existenz als Journalist und später als Schriftsteller aufzubauen. Und er ist dann auch überaus erfolgreich geworden, ein Autor, der es „geschafft“ hat, einer, bei dem kaum ein Jahr verging, ohne dass nicht mindestens ein neuer Titel von ihm auf den Markt kam. Aber um welchen Preis? Und mit welchen Blessuren wurde dieser Erfolg erkämpft!

 

Es war vor allem die Zeit des Heranwachsens in den Wirren des Kriegsendes und unmittelbar danach, das Suchen nach einem Standort, nach Orientierung, nach einem festen Halt – das hat seine Persönlichkeit geprägt, seine Freundlichkeit. Sie begegnet uns auch auf vertraute Weise in seinem sympathisch, mitunter auch leicht behäbigen Erzählen. Denn auch, wo Härtling Trauriges mitteilte, blieb er diesem gemütvoll-gemütlichen Grundton verpflichtet, den man aus seinen vielen Romanen und Erzählungen kennt. „Bruder im Labor der Träume“, so hat der Dichterfreund Johannes Poethen den Lyriker Härtling schon zur Zeit der ersten literarischen Versuche apostrophiert. Vieles freilich von dem, was seine Kindheit betraf, die Jahre im Sudetenland, die große Familie mit dem anti-nazistischen Vater, der auf tragische Weise in einem russischen Gefangenenlager in der Nähe von Zwettl in Niederösterreich umkommt, das tschechische Kinderfräulein in Brünn, schließlich die Flucht.

Flucht nach Nürtingen

Einiges davon hat Härtling – etwa in „Nachgetragene Liebe“ – zur angeeigneten Lebenschronik erhoben. Doch später erfuhr man auch Neues: Der Treck nach Westen, die stationenreiche Flucht ins württembergische Nürtingen, dessen Ehrenbürger er später wurde, das schwierige Zusammenleben mit Großmutter und Tanten, die autoritäre Schulatmosphäre, die Begeisterung für Wolfgang Borchert, die ersten dichterischen „Gehversuche“. Und wieder die Aneignung. Härtling und sein Schwabentum. Der junge Journalist, der die Schule vor dem Abitur wegen der Animosität eines einzelnen Lehrers abbricht, bei der „Nürtinger Zeitung“ volontierte, der Eintritt ins Feuilleton der „Heidenheimer Zeitung“, die Nähe zu HAP Grieshaber, dann in Stuttgart bei der „Deutschen Zeitung“ ,später Cheflektor des S.Fischer-Verlags in Frankfurt – und schließlich 1973 der Beginn der Schriftstellerlaufbahn.

Zunächst wollte er „die Sprachen der Politiker und Verwalter, der Generäle und Händler“ aufquellen lassen „von Dreck, Lüge, Gewalt und Sinnlosigkeit“ – aber das war nur ein frühes Programm, von dem er sich bald verabschieden sollte. Er erkor Hölderlin und Mörike zu seinen Leitsternen, versenkte sich in Schubert und Schumann, im Alter auch in Verdi, begeisterte sich für Nikolaus Lenau und Waiblinger, die Kunst, das Künstlertum wurden ihm heilig. Darüber wurde er zu einem der produktivsten und populärsten Schriftsteller der alten Bundesrepublik. Er verpflichtete sich keiner ideologischen Richtung, engagierte sich aber in den sechziger, siebziger Jahren für die Ostpolitik von Brandt und Scheel. Und später gehörte er mit zu denen, die beherzt, aber vergeblich gegen die Startbahn West des Frankfurter Flughafens protestierten. Der Sachse, der zum Schwaben geworden war, hatte sich mit Frau und vier Kindern im hessischen Mörfelden-Walldorf niedergelassen.

Der Künstlerroman war seine Domäne

In vielen seiner Bücher, auch in denen, die er für Kinder schrieb – etwa „Krücke“ oder „Reise gegen den Wind“ – erzählt Härtling von Kriegen und Fluchten. „Der Krieg war noch immer da, wie ein Gespenst“, heißt es in „Reise gegen den Wind“. Das erste Kinderbuch, das er fertigstellte, „Das war der Hirbel“, war die Geschichte eines behinderten Kindes. Oder „Ben liebt Anna“, ein Liebesroman für Kinder, den Härtling Anfang der achtziger Jahre schrieb. Es war dies der seltene Glücksfall, dass ein Autor sowohl für Kinder als auch für Erwachsene zu schreiben verstand, wobei man immer wieder staunend feststellen konnte, wie sich eine gewisse Weichheit im erzählerischen Naturell mit einer klaren, unaufgeregten Sprachhaltung traf.

Sein eigentliches Terrain blieb bei alledem der Künstlerroman. Der Dichter Nikolaus Lenau steht im Mittelpunkt des 1964 erschienenen Buches „Niembsch oder Der Stillstand“. Zwei Jahre später folgte „Janek – Porträt einer Erinnerung“, eine Art chiffrierte autobiographische Bestandsaufnahme. In dem 1976 herausgekommenen Roman „Hölderlin“ zeichnete Härtling den Weg des Dichters in die geistige Umnachtung nach, zwanzig Jahre danach erschien sein Künstlerroman „Schumanns Schatten“ . Nicht alles ist Härtling gelungen. An E.T.A.Hoffmann („Vielfältige Liebe“ von 2001) kam er irgendwie nicht heran. Seine „Romanze“ blieb an der Oberfläche stecken. Die schwierige, bizarre Gestalt Hoffmanns entzog sich ihm. Härtling hatte aber – auch im Fall von Schubert – meistens eine feste Vorstellung von seinem Sujet, er näherte sich ihm nicht mit der Absicht, womöglich etwas Unbekanntes zu entdecken, sondern hielt sich an die eigene Mystifikation. Doch dann – Härtling war gerade 72 Jahre alt – die Erfahrung der Todesangst.

Über die Begegnung mit dem Tod geschrieben

Die Ärzte diagnostizierten einen Vorderwandinfarkt mit Lungenödem. Dazu ein Hirnschlag mit angstmachenden Folgen. Härtling hat über diese Begegnung mit dem Tod geschrieben. Er hatte Glück, großes Glück – von Lähmungen und Sprachstörungen blieb nichts zurück. Peter Härtling schrieb weiter – über Fanny Mendelsohn und zuletzt über zwei Männer, die sich der Kunst verschrieben haben („Tage mit Echo“) und über Verdi, dessen Musik er so liebte. Peter Härtling, ein Melancholiker und Skeptiker zugleich, hatte eine Eigenschaft, die man auch im Kulturleben selten antrifft: Menschenfreundlichkeit. Sie half ihm, Hürden zu nehmen, an denen viele seiner Zunft ins Stolpern geraten. „Literatur trägt nach, sie eilt selten voran.“ Das war sein historisch bestimmtes Verständnis von Literatur. Am Montag ist er nach kurzer schwerer Erkrankung im Alter von 83 Jahren gestorben. Dieser in Traurigkeit lebensfroh gewordene Geschichtenerzähler hatte im deutschsprachigen Raum nicht Seinesgleichen.