Der französische Komponist und Dirigent Pierre Bouelz ist im Alter von neunzig Jahren in seiner Wahlheimat Baden-Baden gestorben. Er prägte die Musik nach 1945 wie wenige Künstler.

Baden-Baden - Nicht nur die politische Geschichte kennt Pendelbewegungen, auch die musikalische. Als die New Yorker Philharmoniker 1969 nach elf Jahren unter der Leitung ihres charismatischen, jeden umarmenden Leonard Bernstein einen neuen Chefdirigenten suchten, fiel die Wahl auf Pierre Boulez. Eine Überraschung. Der Franzose war Bernsteins Gegenpol, nicht nur äußerlich gesehen: Am Pult war er die Ruhe selbst. Gemessen, verhalten, sachlich, von verbindlicher, aber nicht herzender Freundlichkeit agierte Boulez. Er kam ohne Taktstock, nicht ohne Partitur.

 

Das überzeugte das als schwierig geltende, selbstbewusste Orchester. Zunächst hatte Boulez am 13. März 1969 mit einem für ihn typischen Programm bei den New Yorkern debütiert: Debussys „Jeux“ und „La Mer“, Bergs Violinkonzert und Varèses „Intégrales“. Als er kurz darauf mit Strawinskys „Sacre du Printemps“ wiederkam, stand die Wahl fest. 1971 wurde Boulez Chefdirigent des New York Philharmonic – und er blieb bis 1977, bis seine Repertoire-Resistenz dann doch zu sehr die Kasse belastete. Boulez stand eben nicht für Mozart, Strauss, Tschaikowsky, Brahms und Beethoven – die Schallplatte mit Beethovens Fünfter blieb eine Ausnahme, eine kurios-viereckige Angelegenheit. Später erweiterte Boulez dann sein Blickfeld. Dass er Gustav Mahler schätzte, lag nahe, nicht aber, dass er 1996 eine fesselnde Aufnahme von Anton Bruckners achter Sinfonie dirigierte. Die Wiener Philharmoniker und Boulez’ kristalline Strukturauffassung: das ergab eine unerhörte Dimension.

Ansonsten gilt Daniel Barenboims Satz über den lebenslangen Freund: „Boulez hat es geschafft, mit dem Kopf zu fühlen und mit dem Herzen zu denken.“ Ein Wort, das auch gemünzt war auf den Komponisten, den Strukturalisten und Serialisten, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem Sprung die Szene betrat – und zutrat. Manche brutale Geste gehörte damals zum Ton im Kampf um die richtige Musik. „Schönberg est mort“ verkündete der am 26. März 1925 in Montbrison geborene Künstler bei einem Vortrag 1951 in Darmstadt kurz nach dem Tod des Ahnherrn der musikalischen Moderne – und Boulez bezog das konkret auch auf dessen Ästhetik. Ziemlich frech für einen Mittzwanziger! Boulez ließ sich weiter hinreißen; 1957 störte er mit Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen türenknallend die Uraufführung von Hans Werner Henzes „Nachtstücken und Arien“ in Donaueschingen. Später hat Pierre Boulez behauptet, es wäre eh nur die Generalprobe gewesen.

Berühmt wurde der Jahrhundert-„Ring“ in Bayreuth

Wenig nett auch sein Satz, Henze sei ein „lackierter Friseur, der einem ganz oberflächlichen Modernismus huldigt“. Diese Beleidigung fiel 1967 in einem „Spiegel“-Gespräch, das durch eine andere Bemerkung berühmt geworden ist: Pierre Boulez’ Vorschlag, die bestehenden Opernhäuser in die Luft zu sprengen – seiner Meinung nach eine zwar teure, aber doch elegante Lösung für das Problem, warum es keine akzeptablen modernen Opern gäbe. Die Beschränktheit der Guckkastenbühne, ihre Invarianz: Boulez Befund traf einen Punkt, bloß war er damit seiner Zeit zu weit voraus. Die folgende Aufregung entstand vor allem deshalb, weil er nebenbei einige Operngrößen klein und also fertiggemacht hatte: Franco Zeffirelli und Rolf Liebermann – und selbst den Freunden Kagel und Ligeti wurde attestiert, dass ihre Theatermusiken „recht dünn“ seien. Boulez selbst hat, obwohl er sich die Zusammenarbeit mit Jean Genet und später Heiner Müller hätte vorstellen können, nie eine Oper geschrieben, doch einige dirigiert. Am berühmtesten ist die Zusammenarbeit mit dem von ihm entdeckten Regisseur Patrice Chéreau beim „Ring“ in Bayreuth von 1976 bis 1980 – das historische Wagner-Theater war ein Raum, der Boulez als Konzept überzeugte.

Das Dilemma fehlender Räume und Institutionen für die zeitgenössische Musik half Boulez Mitte der siebziger Jahre zu lösen, als er in Paris das musikalische Forschungsinstitut IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique) und das Ensemble Intercontemporain aufbaute. Noch die im vergangenen Jahr eröffnete Pariser Philharmonie mit ihrem verwandelbaren Saal ist ein Nachzügler der Initiativen und Ideen von Pierre Boulez.

Seine Kompositionen hat Boulez of überarbeitet

Als Komponist hinterlässt Boulez ein schmales, aber konzises Werk, ähnlich dem von Anton Webern. Es passt auf elf CDs. Skrupulös hat er seine Werke immer wieder überarbeitet, erweitert – eine Komposition war für ihn nichts Abgeschlossenes; er veränderte, stellte um, erweiterte und transformierte sie. Das erste von ihm akzeptierte Werk, die „Douze Notations“ für Klavier, entstand 1945 und diente beispielsweise mehr als dreißig Jahre später als Quelle für fünf „Notations“ für Orchester.

So offen Boulez im Umgang gewesen ist, so unnahbar wirkte er gleichzeitig. Das hatte wohl auch mit seinem Privatleben zu tun. Gegenüber Stockhausen hatte er sich 1966 beklagt, „wie viel Energie man dieser Hauptaufgabe (der Musik) doch wegnähme durch Probleme, wie sie eine Partnerschaft mit sich zu bringen pflege“. So berichtet es die Künstlerin Mary Bauermeister, Stockhausens Muse und zweite Ehefrau, in ihrem Buch „Ich hänge im Triolengitter: Mein Leben mit Karlheinz Stockhausen“. Lieber widmete Pierre Boulez, der enthaltsame Homosexuelle, seine ganze Zeit und Energie der Musik. Jetzt ist diese Jahrhundertgestalt am Dienstag in Baden-Baden, wo er Jahrzehnte lebte und im vergangenen Jahr Ehrenbürger wurde, im Alter von neunzig Jahren gestorben.