Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Bliebe es bei – wie der Dramaturg Morabito sie nennt – Elviras „Traumfabrik“ nach Sigmund Freuds Vorbild ( Träumen als Wunscherfüllung) alleine, ließe sich der Abend von nun an konsequent durch deklinieren. Im von Anna Viebrock bis ins Detail historisch einerseits genau nachempfundenen, andererseits geschickt überzeitlich aufgebrochenen Bühnenbild würde Elvira sich als buchstäblich verrückte Todeskandidatin schleppen, wobei etliche Kopfgeburten zu zeigen wären. Und so fort. Bis Arturo wieder kommt, kriegsversehrt, reumütig: Erlösung dem Befreier, Befreiung der Erlösten, die wieder bei Sinnen ist. Oliver Cromwell siegt, Gnade für alle, Happy Ending im Rahmen des Möglichen. Der Fokus läge, wie fast immer, wenn Bellinis Musik unüberhörbar in der Krise der Charaktere an harmonischem Reichtum und Farbe noch enorm gewinnt (und über die Staatsträger Meyerbeer und Auber zur gleichen Zeit erheblich hinaus gelangt), auf dem Wahnsinn und seiner (dramaturgisch unglaubhaften) Bewältigung.

 

Vorher aber – und das ist nun ihr Hauptanliegen und der größte Kunstgriff an einem ästhetisch reichen, intellektuell herausfordernden Abend – ziehen Wieler und Morabito noch eine zusätzliche Bedeutungsebene ein, auf deren Höhe bisher noch keiner gekommen ist. Dass Bellini in seiner letzten Oper ausgerechnet zur bilderfeindlichen, asketischen, geistig kastrierten Gesellschaft der Puritaner ein solch endlos melodienseliges, im Orchestersatz oft quasi sinfonisch und zartmotorisch arbeitendes Gegenmodell entwirft, hat ja etwas Provozierendes. Im Stück, genau gelesen, hat die Provokation einen Namen, Sir Giorgio. Er ist der Bruder des bornierten, allenfalls eindimensional denkenden Vaters von Elvira, also ihr Onkel (sie sagt: „zweiter Vater“) – und er ist: ein Spieler. So zeigt ihn die Inszenierung, die einerseits die Zeitebene 1650 nicht verlässt und sich trotzdem als Spiegelung sehr moderner, zeitgenössischer, ja theaterimmanenter Probleme von heute versteht. Giorgio, in blauem Blazer, grauer Hose und Boheme-Schuhen schon weit über den Zwangsjackendresscode der Zivilisation hier hinaus, ist in der Interpretation durch Adam Palka, der mit feinem, beweglichen Bass in seiner Rolle debütiert (wie alle anderen) – unübersehbar mit optischen und inhaltlichen Anleihen bei Thomas Mann angesiedelt: Giorgio, der Zauberer. Er besitzt eine entsprechende, innen mit funkelndem Samt beschlagene Kiste, aus der er die Requisiten hervorziehen kann, mit denen sich die Handlung umsteuern lässt. Denn das ist das Ziel des seltsam verklemmt empathisch wirkenden, aber auch sehr solistisch veranlagten, die eigene Sexualität womöglich unterdrückenden Charakters. Er hat seinem Bruder die eigentlich unmögliche Heirat Elviras mit Arturo eingeredet, eine Verhandlung, die er im Verein mit einer Handpuppe am rechten Arm für Elvira auch als Puppentheater darstellt. Elvira ist sein Geschöpf, und er will sie tanzen sehen, auch um seiner selbst willen. Giorgio zieht die Fäden. Sein Plan besteht darin, den Austritt aus der Welt der religiös verordneten Unmündigkeit über die Kunst zu versuchen. Die Kunst zu träumen, der Traum als Kunst, gehören selbstverständlich dazu. Später bleibt ihm der Part der Krankenschwester, schließlich eindeutiges Renegatentum. Giorgio geht unterm Kreuz, ganz in Schwarz, und er kassiert ein finales Bashing von Elvira: der Onkel als Verführer, der Künstler als Verräter.

Über die frappierenden Theatermomente hinaus verweisen die Giorgio-Szenen immanent auf Probleme, die selbst eine außerordentliche zeitgenössische Oper wie die Stuttgarter zurzeit (auch) hat. Vorbei sind die Zeiten, in denen solche Premieren selbstverständlich bis unters Dach ausverkauft waren. Was kann die Kunst? In die Irre führen. Gewiss. Aber eben auch Situationen wie die eben beschriebene, konform zu Text und Musik, aber längst über beide hinaus, herstellen: tiefgehend und zugleich mit einer staunenswerten Leichtigkeit formuliert wird die These, dass der verschrobenen, verkehrten Wirklichkeit manchmal eben nur mit dem Spiel beizukommen ist. Schillers These, wenn man so wollte. Die hier wunderbar bewiesen wird.

Zwei Seiten der Medaillen

Spiel und Wirklichkeit finden sich in den Stuttgarter „Puritanern“ als zwei Seiten einer Medaille wieder – wenn man sie so drehen kann wie Wieler und Morabito. Dem pompös inszenierten Auftritt des Kavaliers Arturo, mit Federhut und in Stulpenstiefeln, Schleier und Küsschen werfend (Arturo auf Burg Dingelstein vor Erfindung der Augsburger Puppenkiste), korrespondiert in der Inszenierung ein letztes Bild, das den Kriegsheimkehrer als gebrochenen, blinden Mann zeigt, dem eine zunächst zornige, prügelnde Elvira die Vergangenheit aus ihrer Sicht zuerst zusammensetzen muss. Sein (Selbst-) Bild ist es nicht. Elvira wohnt in einem kleinen Modellhaus, das wiederum ein Traum vom Glück sein könnte, wenn es nicht umgeben wäre von lauter menschlichen und steinernen Opfern: den Statuen haben die Eiferer die Köpfe abgeschlagen. Palmyra und Bamyan, die Taliban und der IS wohnen gleich hinter unseren Theatern (von denen sie nichts wissen wollen). Elvira, gewissermaßen das Gewissen der Menschheit hier, kugelt Arturo die steinernen Häupter vor die Füße: jeder Brocken ein Stolperstein.

Spannung bis zum Schluss

Exemplarisch für die gesamte vorzügliche musikalische Arbeit sind die finalen Auftritte von Ana Durlovski und Edgardo Rocha. Es geht ihnen, zweigestrichene Des-, D und F-Tenorhöhen inklusive, nie um eine singuläre vokale Machtdemonstration, sondern um ein Miteinander in dieser Partitur lauter Nachtmusiken: schon den Ophelia-Momenten, angefangen von „O rendetemi la speme“, von hinter der Szene gesungen, gibt die immens konzentrierte Ana Durlosvski, obendrein stets eine perfekte Schauspielerin, eine Wahrhaftigkeit, die für die Doppelintentionen der Regie steht: Träumt sie , ist sie entrückt? Oder spielt sie damit, kein Spiel zu spielen? Neben dem omnipräsenten Chor (Leitung: Johannes Knecht) sind im Übrigen alle Rollen aus dem Haus besetzt. Über Diana Haller, Roland Bracht und Heinz Göhrig hinaus fällt dabei die Aufmerksamkeit besonders auf Gezim Myshketa als Riccardo, Trumm von einem Mann und Bass – und nach Ford, Marcello und Escamillo jetzt ein hochrobuster, aber auch vielgestaltiger Riccardo. Weg vom Klischee, das gilt immer als Losung.

Vorher aber – und das ist nun ihr Hauptanliegen und der größte Kunstgriff an einem ästhetisch reichen, intellektuell herausfordernden Abend – ziehen Wieler und Morabito noch eine zusätzliche Bedeutungsebene ein, auf deren Höhe bisher noch keiner gekommen ist. Dass Bellini in seiner letzten Oper ausgerechnet zur bilderfeindlichen, asketischen, geistig kastrierten Gesellschaft der Puritaner ein solch endlos melodienseliges, im Orchestersatz oft quasi sinfonisch und zartmotorisch arbeitendes Gegenmodell entwirft, hat ja etwas Provozierendes. Im Stück, genau gelesen, hat die Provokation einen Namen, Sir Giorgio. Er ist der Bruder des bornierten, allenfalls eindimensional denkenden Vaters von Elvira, also ihr Onkel (sie sagt: „zweiter Vater“) – und er ist: ein Spieler. So zeigt ihn die Inszenierung, die einerseits die Zeitebene 1650 nicht verlässt und sich trotzdem als Spiegelung sehr moderner, zeitgenössischer, ja theaterimmanenter Probleme von heute versteht. Giorgio, in blauem Blazer, grauer Hose und Boheme-Schuhen schon weit über den Zwangsjackendresscode der Zivilisation hier hinaus, ist in der Interpretation durch Adam Palka, der mit feinem, beweglichen Bass in seiner Rolle debütiert (wie alle anderen) – unübersehbar mit optischen und inhaltlichen Anleihen bei Thomas Mann angesiedelt: Giorgio, der Zauberer. Er besitzt eine entsprechende, innen mit funkelndem Samt beschlagene Kiste, aus der er die Requisiten hervorziehen kann, mit denen sich die Handlung umsteuern lässt. Denn das ist das Ziel des seltsam verklemmt empathisch wirkenden, aber auch sehr solistisch veranlagten, die eigene Sexualität womöglich unterdrückenden Charakters. Er hat seinem Bruder die eigentlich unmögliche Heirat Elviras mit Arturo eingeredet, eine Verhandlung, die er im Verein mit einer Handpuppe am rechten Arm für Elvira auch als Puppentheater darstellt. Elvira ist sein Geschöpf, und er will sie tanzen sehen, auch um seiner selbst willen. Giorgio zieht die Fäden. Sein Plan besteht darin, den Austritt aus der Welt der religiös verordneten Unmündigkeit über die Kunst zu versuchen. Die Kunst zu träumen, der Traum als Kunst, gehören selbstverständlich dazu. Später bleibt ihm der Part der Krankenschwester, schließlich eindeutiges Renegatentum. Giorgio geht unterm Kreuz, ganz in Schwarz, und er kassiert ein finales Bashing von Elvira: der Onkel als Verführer, der Künstler als Verräter.

Über die frappierenden Theatermomente hinaus verweisen die Giorgio-Szenen immanent auf Probleme, die selbst eine außerordentliche zeitgenössische Oper wie die Stuttgarter zurzeit (auch) hat. Vorbei sind die Zeiten, in denen solche Premieren selbstverständlich bis unters Dach ausverkauft waren. Was kann die Kunst? In die Irre führen. Gewiss. Aber eben auch Situationen wie die eben beschriebene, konform zu Text und Musik, aber längst über beide hinaus, herstellen: tiefgehend und zugleich mit einer staunenswerten Leichtigkeit formuliert wird die These, dass der verschrobenen, verkehrten Wirklichkeit manchmal eben nur mit dem Spiel beizukommen ist. Schillers These, wenn man so wollte. Die hier wunderbar bewiesen wird.

Zwei Seiten der Medaillen

Spiel und Wirklichkeit finden sich in den Stuttgarter „Puritanern“ als zwei Seiten einer Medaille wieder – wenn man sie so drehen kann wie Wieler und Morabito. Dem pompös inszenierten Auftritt des Kavaliers Arturo, mit Federhut und in Stulpenstiefeln, Schleier und Küsschen werfend (Arturo auf Burg Dingelstein vor Erfindung der Augsburger Puppenkiste), korrespondiert in der Inszenierung ein letztes Bild, das den Kriegsheimkehrer als gebrochenen, blinden Mann zeigt, dem eine zunächst zornige, prügelnde Elvira die Vergangenheit aus ihrer Sicht zuerst zusammensetzen muss. Sein (Selbst-) Bild ist es nicht. Elvira wohnt in einem kleinen Modellhaus, das wiederum ein Traum vom Glück sein könnte, wenn es nicht umgeben wäre von lauter menschlichen und steinernen Opfern: den Statuen haben die Eiferer die Köpfe abgeschlagen. Palmyra und Bamyan, die Taliban und der IS wohnen gleich hinter unseren Theatern (von denen sie nichts wissen wollen). Elvira, gewissermaßen das Gewissen der Menschheit hier, kugelt Arturo die steinernen Häupter vor die Füße: jeder Brocken ein Stolperstein.

Spannung bis zum Schluss

Exemplarisch für die gesamte vorzügliche musikalische Arbeit sind die finalen Auftritte von Ana Durlovski und Edgardo Rocha. Es geht ihnen, zweigestrichene Des-, D und F-Tenorhöhen inklusive, nie um eine singuläre vokale Machtdemonstration, sondern um ein Miteinander in dieser Partitur lauter Nachtmusiken: schon den Ophelia-Momenten, angefangen von „O rendetemi la speme“, von hinter der Szene gesungen, gibt die immens konzentrierte Ana Durlosvski, obendrein stets eine perfekte Schauspielerin, eine Wahrhaftigkeit, die für die Doppelintentionen der Regie steht: Träumt sie , ist sie entrückt? Oder spielt sie damit, kein Spiel zu spielen? Neben dem omnipräsenten Chor (Leitung: Johannes Knecht) sind im Übrigen alle Rollen aus dem Haus besetzt. Über Diana Haller, Roland Bracht und Heinz Göhrig hinaus fällt dabei die Aufmerksamkeit besonders auf Gezim Myshketa als Riccardo, Trumm von einem Mann und Bass – und nach Ford, Marcello und Escamillo jetzt ein hochrobuster, aber auch vielgestaltiger Riccardo. Weg vom Klischee, das gilt immer als Losung.

Keine Sekunde, die Giuliano Carella mit dem Staatsorchester bei aller rhythmischen Präzision auch zu dehnen weiß (siehe oben), kommt man hier aus dem Grübeln heraus. Bis zum Schluss hält die Spannung, wer sich wohin sortiert. Und eine eindeutige Antwort will die virtuos mehrdeutige Inszenierung nicht geben. Sie hält einen Funken Hoffnung bereit, als ein kleines Mädchen von der Brücke herab Flugblätter wirft, die von der Befreiung künden. Und sie spielt noch einmal mit dem Furchtgedanken, als sich die Puritaner erneut sammeln, um den geballten Widerstand zu symbolisieren. Arturo ist unter ihnen. Er hält die Bibel hoch, in der er nicht mehr lesen kann: „Jubel und Treue?“ Elvira hat Zweifel. Die Musik hat sie nicht. Die Regie teilt sie.

Denkwürdig.

Vorstellungen am 11., 14., 17. Und 27. Juli