Auf der Intensivstation im Katharinenhospital. Das Protokoll einer Nachtschicht mit Assistenzarzt Michael Beier zeigt, wie belastend seine Arbeit ist.

Stuttgart - Es ist 23.15 Uhr, Schichtbeginn. Schon im Spätdienst hat es zweimal Herzalarm gegeben. Einer verlief tödlich, beim anderen hat es der Patient geschafft. Aber auch der Nachtdienst wird nicht ruhig werden. Es sei "extrem" gelaufen, wird Michael Beier, 37, viele Stunden später sagen: "Eigentlich eine Katastrophe." Aber zu diesem Zeitpunkt ist das nicht zu erahnen, Beier hält noch an seinem Fahrplan für die nächsten neun Stunden fest.

 

Einmal jeden seiner 18 Patienten sehen und sie bis zum Morgen gut versorgen - gemeinsam mit sechs Pflegekräften und einer Arztkollegin, der Springkraft. "Die Patienten durch die Nacht bringen", nennt er es. Entspannt und locker macht sein Kollege Jack Chater vom Spätdienst mit ihm die Übergabe, erläutert Zahlenkolonnen mit den Patientendaten am Bildschirm: Blutwerte, Leberwerte, Gerinnungsfaktoren, Sauerstoffsättigung. Alle Betten sind belegt mit Kranken im Alter von 20 bis 87 Jahren. Zehn sind beatmet, alle mit Schläuchen und Kanülen versehen, verdrahtet und fixiert.

Chater und Beier diskutieren Therapiemöglichkeiten in ihrem Fachjargon, der Laie versteht Bruchstücke. Bei A. habe sich der Schädel hämatös verändert, sagt Chater, bei M. seien die Beatmungsmuskeln noch schwach, bei K. "pinkelt die Niere gut" und er habe einen "schönen Sinus-Rhythmus". Eine Schwester unterbricht: "Ich muss mal stören. Bei Frau H. gefällt mir die Lunge gar nicht." Beier sieht nach. Frau H. atmet schwer trotz Sauerstoffgabe. Mit ihr wird er die Nacht viel zu tun haben.

Die Hektik nimmt zu

00.15 Uhr Herzalarm. Signalisiert durch normales Telefonklingeln, lauter als sonst. Auf einer Station im Klinikum hat ein chronisch Nierenkranker bei einer Untersuchung einen Herzstillstand erlitten, Hektik auf der A 4: Die Springerin läuft mit dem Reanimationswagen und zwei Schwestern los. "Wo ist das?" schreit jemand. Assistenzärzte und Pflegekräfte duzen sich, arbeiten Hand in Hand.

Eine Schwester nennt Beier "Michel". "Wer es mit der Pflege nicht kann, der kann in der Intensivmedizin einpacken", sagt Beier. Am Hals trägt er ein Band der Deutschen Flugrettung. Mit elf Jahren ging er zum Jugendrotkreuz, seitdem wollte er Arzt werden. Die Hektik auf der Station nimmt zu, man sieht es an Kleinigkeiten. Eine Schwester kritzelt mit dem Edding-Stift Anweisungen des Arztes auf ihre Einweghandschuhe. Es gebe nun kleine atmosphärische Störungen, sagt Beier, ob man das bemerke. Nein, eigentlich nicht.

"Schnelligkeit geht jetzt vor Sterilität"

1.15 Uhr Der kollabierte Nierenkranke L. ist auf die A 4 gebracht worden, wiederbelebt, aber instabil. Er erleidet prompt den zweiten Herzstillstand. Es ist gut, dass zwei Ärzte aus dem Spätdienst noch da sind. Jetzt stehen vier Mediziner und drei Pflegekräfte am Bett von L. und bemühen sich um sein Leben - sie drücken mit den Händen rhythmisch auf seinen Brustkorb, sie wechseln sich im Minutentakt ab.

Knappe Anweisungen werden gerufen, in Kürze ist das halbe Zimmer vermüllt mit Verpackungsmaterial, Bettzeug fliegt in die Ecke. Sie finden keinen venösen Zugang, an mehreren Körperstellen probieren sie es. "Schnelligkeit geht jetzt vor Sterilität", sagt Beier. Bei den anderen Patienten sollte nun nichts passieren. Beier ist der erfahrenste Arzt, mit einem Mini-Bohrer bohrt er L.s Schienbein an, setzt einen Zugang ins Knochenmark.

In einer Stunde werden schätzungsweise 50 Einzelmaßnahmen an L. durchgeführt: Einstichversuche, Medikamentengabe, Katheterlegen, Einsatz der Reanimationsmaschine Lucas. "L. ist leidlich stabil", heißt es dann, aufatmen. Wilhelm Heber, ein erfahrener Krankenpfleger, Mitte 40, drahtig, seit 20 Jahren im KH, hält inne und lächelt: "Manchmal denkt man, es geht nicht mehr." Man sei "oft am Limit", sagt auch Beier. "Wir sehen, dass die Pflege - genau wie wir - unter enormem Zeitdruck steht." Wenn Beier abstrakt über seine Mitarbeiter spricht, sagt er immer "die Pflege".

"Es ist traurig, aber es gehört zu unserem Job"

3.40 Uhr Mit Frau H. muss etwas passieren. Ihre Atemnot grenzt an Röcheln, ein HNO-Arzt wird angerufen. "Ich kann in den Hals ja nicht reinsehen, ich höre nur, dass es pfeift", sagt Beier in den Hörer. Nachdem der HNO-Doktor da war und seinen Rat gegeben hat, sagt Beier: "Ganz herzlichen Dank für Ihr Kommen." Aber ein für H. empfohlenes Medikament schlägt nicht an, ihre Stimmlippen sind geschwollen, schnüren sie ab.

Sie muss intubiert werden, künstlich beatmet. Bevor die Prozedur beginnt, streichelt eine Schwester die Wangen der Patientin: "Nicht erschrecken, Frau H., leider reicht Ihre Luft nicht aus." Beier intubiert einen Kinderschlauch, alle anderen waren zu dick. Es sei, wie wenn man mit einem Strohhalm schnorchle, sagt Beier. Manchmal hört man das Mitleid bei ihm heraus, wenn er über seine fixierten, wehrlosen Intensivpatienten spricht. "Die können sich nicht mal äußern, wenn sie frieren und eine Decke wollen."

4.10 Uhr Die Springer-Ärztin kommt: Mit L. sehe es nicht gut aus, sie murmelt etwas von "verloren". Vier Stunden des intensiven Bemühens, es war alles vergeblich. Ein Telefonat mit dem Oberarzt, dann die Entscheidung, die Wiederbelebungsmaschine abzuschalten. "Der Blutdruck kam einfach nicht mehr hoch." Die Ärztin blickt betreten, sie muss die Angehörigen anrufen. "Es ist traurig, aber es gehört zu unserem Job." Man habe schlechte Nachrichten, mit diesen Worten leiten die Ärzte den Anruf oft ein.

Freizeit wichtiger als Geld

4.30 Uhr Jack Chater vom Spätdienst geht nach Hause, fast fünf Stunden nach seinem Dienstschluss. Seine Springer-Kollegin vom Frühdienst wird erst gegen 7 Uhr früh gehen. Sie hat sich intensiv um den einzigen überlebenden Reanimationspatienten des Tages - Herrn Z. - gekümmert, und sie wird im Prinzip eine Doppelschicht leisten, mehr als 15 Stunden.

Der Klinische Direktor des Katharinenhospitals, Claude Krier, wird später erläutern, dass so lange Dienste nicht die Normalität seien. "Bei hohem Andrang können Spitzen entstehen." Wegen der Finanznot könne man es sich nicht leisten, personelle Reserven aufzustellen. Aber Freizeit sei vielen Ärzten wichtiger als Geld: "Die wollen eine ausgeglichene Work-Life-Balance." Eine Arbeitsgruppe im 700-Betten-Klinikum bemühe sich um "attraktive Arbeitsbedingungen".

"Herr Doktor, leben Sie noch?"

5.00 Uhr Jetzt komme er erst zu seiner eigentlichen Arbeit, sagt Beier. Die kritischen Schwerstkranken hat er bisher alle im Blick gehabt, seine "Ressourcen geteilt", wie er sagt. Nun macht er Visite an jedem Krankenbett. Die Hochbetagte mit dem Fieberproblem, ein Mann in den 60ern mit einer Sepsis - sein "Sorgenkind", seine jüngste Patientin und einen älteren Herrn, der mit ihm einen entrückten Dialog beginnt:

"Herr Doktor, leben Sie noch?" "Ja, und Sie?" Antwort des Patienten: "Ja, aber kurz wäre es beinahe vorbei gewesen." Die Lage ist entspannt. Beier sagt, keine Station habe eine so schöne Aussicht wie die A 4, er denke dabei an Neu-Delhi. Ständig misst er die Ausscheidungen der Patienten, kontrolliert mit der Taschenlampe Urinbeutel. Wie hoch muss die Flüssigkeitszufuhr sein, das ist die Gretchenfrage bei Nierenkranken. Die Medizin sei "keine exakte Wissenschaft", sagt Beier.

Vernetzt, effizient und teuer

5.30 Uhr Ein Lichtblick. Beim reanimierten Herrn Z. findet Beier 1000 Milliliter Ausscheidung: "feine Sache!" Auf der elektronischen Patientenakte von Frau H. vermerkt der Radiologe, der zwei Stockwerke unter der A 4 sitzt, dass ihr Beatmungsschlauch gut sitze. Er hat es auf dem Röntgenbild gesehen. Die Medizin ist vernetzt, effizient und teuer. Die Klinikleitung nennt Zahlen: Die Einrichtung eines Intensivbettes kostet 30.0000 Euro, für die mehrwöchige Behandlung eines schweren Unfalltraumas erhält sie 184.000 Euro, für einen Asthmaanfall mit einigen Tagen auf "Intensiv" 1500 Euro.

Er könne guten Gewissens sagen, dass er sich beim Einsatz seiner Mittel noch nie wegen "finanzieller Gegebenheiten" habe einschränken müssen, sagt Beier. "Auch nicht bei 87-Jährigen." Allenfalls im Sommer, wenn in den Ferien Blutkonserven knapp sind, überlege er sich, ob man das kostbare Blut auch bei "weichen Indikatoren" einsetzen müsse.

"Vorbeten" beim Oberarzt

7.03 Uhr Notruf. Bei einer Patientin sackt der Blutdruck auf 50 ab, Beier klappt das Bett mit dem Kopfteil tief runter, Füße hochlegen bringe rasch 400 Millimeter: "Das mobilisiert." Bald muss Beier zum "Vorbeten" beim Oberarzt, dann ist die gemeinsame Visite mit der Frühschicht.

8.30 Uhr Beier macht Feierabend, 30 Minuten nach Dienstende. Er leistet zwölf Spät- und Nachtdienste hintereinander. Meist schläft er nach der Nachtschicht bis 17 Uhr.