Till Stritter arbeitet als Erzieher für verhaltensauffällige Kinder in der Wilhelmspflege im Stadtbezirk Plieningen. Er muss eine Beziehung zu den Kindern aufbauen und muss gleichzeitig auch Distanz zu ihnen wahren.

Plieningen - Die Nachtschicht beginnt mit der Aussicht auf einen ruhigen Dienst. Till Stritter sitzt in seinem Büro, während nebenan in der Küche auf dem Herd ein Topf Gemüsesuppe vor sich hin blubbert. Für die Zubereitung des Abendessens ist heute eine Kollegin zuständig. Stritter kann sich um Papierkram kümmern. Es sei ein Luxus, nicht alle Dinge gleichzeitig machen zu müssen, sagt er. Sprich: im Büro zu sitzen, gleichzeitig das Essen vorzubereiten und nach den Kindern zu schauen. „Normalerweise machen wir den Nachtdienst alleine, heute bin ich noch ein paar Stunden da, und wir können uns die Aufgaben teilen“, sagt Stritter.

 

Der 26-Jährige sieht sportlich aus. Seinen rechten Arm schmücken Tätowierungen. Damit sieht er ein bisschen aus wie ein Backpacker oder ein Surfer. „Cool“ wäre wohl die passende Beschreibung im Jugendjargon. Till Stritter kann es durchaus nützen, wenn Jugendliche ihn nicht gerade langweilig finden. Er arbeitet mit ihnen, und seine Aufgabe ist es, zu ihnen eine Beziehung aufzubauen. Im gewissen Sinn ist es sein Job, ihr Freund zu sein. Allerdings ein Freund, der wiederum auch sagen kann, wo es lang geht, also vielleicht eher so etwas wie ein großer Bruder.

Jugendlichkeit als Masche zahlt sich nicht aus

Leicht ist es nicht zu definieren, was Erzieher tun, um Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten zu helfen. Nur so viel ist klar, Tattoos oder eine trendige Frisur können nicht schaden, sofern sie nicht nur eine Masche sind, um möglichst jugendlich zu wirken. „Authentizität ist ganz wichtig“, sagt Stritter.

In den Computer tippt er die Informationen über die einzelnen Jugendlichen, die in der Gruppe leben. Wie ihr Tag heute aussah, oder ob es irgendwelche Vorfälle gab. Auch in den Wohngruppen der Wilhelmspflege gibt es eine Übergabe. Wie im Krankenhaus wird dabei gegen Schichtende alles Wichtige notiert, damit diejenigen, die übernehmen, einschätzen können, was in der Nacht auf sie zukommt.

Die Sommergrippe hat Max erwischt

Viel aufzuschreiben hat Till Stritter heute allerdings nicht. Die Gruppe ist geschrumpft. Von den acht Jugendlichen, die normalerweise hier leben, sind einige im Urlaub. Tagsüber gehen diejenigen, die auch die Sommerferien in der Wohngruppe verbringen, ins Waldheim. Sie trudeln am späten Nachmittag ein, kurz vor dem gemeinsamen Abendessen. Ein besonderes Vorkommnis gibt es an diesem Tag. Max (Name geändert) hat sich eine Sommergrippe geholt. Gestern hatte er noch hohes Fieber gehabt. Heute hat er es immerhin schon aus dem Bett geschafft und liegt ein wenig belämmert auf dem Sofa im Wohnzimmer. Till Stritter hat die Bürotür offen. So kann er hören, falls Max etwas braucht.

Stritter wollte den Job des Erziehers immer machen. Bereits nach der Schule hat er ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht, dann kam die Ausbildung. Er weiß, dass er einen Job hat, mit dem er nie reich werden wird. Er kennt die Bedingungen in seiner Branche sogar ziemlich genau, weil seine Eltern den gleichen Job gemacht haben.

Ein Hobby als Ausgleich

Mutter und Vater hatten selbst eine Wohngruppe für verhaltensauffällige Jugendliche geleitet, erzählt er. Stritter hat das Zusammenleben damals erlebt wie in einer großen Familie. Das hat ihn geprägt. Zwei seiner besten Freunde seien später aber auf die schiefe Bahn geraten. Er weiß also, dass auch Erzieher nicht immer den Schaden richten können, für den andere die Verantwortung tragen. Till Stritter spricht deshalb auch von Grenzen, die jeder erkennen müsse, der in dem Beruf arbeiten möchte. Und davon, wie wichtig ein Ausgleich sei, sei es eine Beziehung oder ein leidenschaftliches Hobby. „Bei mir ist es der Kampfsport“, sagt er nüchtern.

Vielleicht ahnt er schon die nächste Frage. Nein, er müsse sich nicht körperlich verteidigen können. Die Vorstellungen, die in der Außenwelt über die Kinder, aber auch ihre Erzieher kursieren, nennt Till Stritter Fantasien. „Das Bild von Erziehern ist noch geprägt von den schlimmen Dingen, die es früher gab“, sagt er. Er meint damit den Missbrauch und die körperliche und seelische Grausamkeit, die es auch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg in Heimen gegeben hat. Mittlerweile haben sich „Heime“ in Wohngruppen verwandelt, in denen Jugendliche ihr eigenes Zimmer haben. Und Erzieher sind nicht mehr grobschlächtige Gestalten, die Disziplin erzwingen, sondern Menschen, die mit Beziehungsarbeit seelische Wunden heilen wollen. Nur die Vorurteile sind geblieben.

Fast wie bei einer Familie

Die Gemüsesuppe dampft mittlerweile in Schüsseln auf dem Esstisch vor sich hin. Am Tisch sitzen Till Stritter und seine Kollegin, der von der Sommergrippe geplagte Max, Hendrik und Benny (Namen geändert). Das Gespräch dreht sich um den Tag im Waldheim. Es wird viel gelacht, fast wie bei einer Familie, in der sich alle gern haben. Eine Familie ersetzen wollen die Erzieher natürlich nicht. Und doch müssen sie oft genug eine Leerstelle einnehmen. Weil Eltern zu zugedröhnt sind, um sich um ihre Kinder und ihre Belange zu kümmern. Oder weil sie den Frust über das eigene Leben mit ihren Fäusten an ihren Kindern auslassen.

Manche Geschichten täten ihm weh, sagt Till Stritter. Da braucht er dann selbst Hilfe, um von dem Kind, dem Gewalt angetan wurde, ein Stück zurückzutreten. „Deshalb gibt es für uns ja auch eine professionelle Supervision“, sagt er. Nachdem die Schüssel mit der Suppe geleert ist, fragt Till Stritter, wer noch Lust hat auf eine Runde Kickern. Hendrik und Till Stritter flitzen in den Keller, wo der Tischkicker steht. Sie kurbeln an den Griffen, damit der Plastikball im richtigen Tor landet, toben, haben Spaß. So in das Spiel vertieft, wirkt Till Stritter tatsächlich wie Hendriks großer Bruder. Beziehungsarbeit funktioniert eben nicht ohne eine Beziehung.