Verkehrte Welt – so scheint es dieser Tage. Die größte Demonstration gegen den Gazakrieg fand in London statt, nicht in Kairo. Das innerarabische Gefüge ist gestört. Eine Analyse der Situation.

Kairo - Verkehrte Welt – so scheint es dieser Tage. Die größte Demonstration gegen den Gazakrieg fand in London statt, nicht in Kairo. Selbst das Aufbegehren einiger hundert Linksaktivisten in Tel Aviv gegen das apokalyptische Bombardement ihrer Armee auf die ramponierte Küstenenklave war hörbarer als sämtliche Proteste in der Golfregion. Nahezu in der kompletten arabischen Welt herrscht dröhnendes Schweigen, bei den Politikern ebenso wie bei ihren Untertanen, bei den Islamgelehrten ebenso wie bei den christlichen Oberhirten. Die drei Jahre nach dem Arabischen Frühling – so scheint es – haben das innerarabische Gefüge so durcheinander gewirbelt, dass selbst die jahrzehntelang gewohnte Nahost-Konstante von Empörung über Israels Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung plötzlich wie verflogen scheint.

 

Die Staaten sind absorbiert vom eigenen Untergang

Denn die Region polarisiert sich immer mehr in hyperautoritäre Polizeistaaten auf der einen und zerfallende Staaten auf der anderen Seite, deren Territorien von Bürgerkrieg, chronischen Unruhen, Übergriffen gegen Minderheiten und Extremisten-Enklaven zerfressen werden. Die zerfallenden Staaten wie Syrien, Irak, Libanon und Libyen sind absorbiert von ihrem eigenen Untergang. Die autoritären Staaten wie Ägypten, Saudi-Arabien, Kuwait und die Emirate lassen praktisch überhaupt keinen inneren Dissens mehr zu. Jeder der zum Demonstrieren auf die Straße geht, riskiert Jahre im Gefängnis. Zugleich tun ihre Herrscher alles, was islamistischen Bewegungen schadet, die sie als Kernursache des regionalen Niedergangs und als Hauptgefahr für eigene Machtaussichten ansehen.

Das Machtkartell wünscht eine Niederlage der Hamas

Und so rühren sie zum großen Sterben in Gaza keinen Finger, zumal die palästinensischen Islamisten vor Ort fast sämtlichen Rückhalt eingebüßt haben. Syriens Bashar al-Assad hat sich als Massenmörder desavouiert. Der Iran hält seit der Wahl des moderaten Präsidenten Rohani auf Distanz. Türkei und Katar sind in der nahöstlichen Welt isoliert wie nie zuvor. Und in Ägypten herrscht nach dem Sturz des Ex-Präsidenten Mursi eine Führung, die alle Islamisten als Terroristen behandelt – in dieser Sicht mit Milliardensummen unterstützt von der Mehrzahl der Golfaristokratien. Dieses regionale Machtkartell wünscht eine Niederlage der Hamas, selbst wenn diese durch Israels Raketen erfolgt. Und so ist auch Ägypten in diesem Krieg parteiisch, obwohl es nach wie vor im Gewand eines neutralen Vermittlers herumläuft.

Kein Wunder, dass der von Kairo recycelte Waffenstillstandspakt vom November 2012 bei der Hamas auf Ablehnung stieß. Denn die Geschäftsgrundlage von damals existiert nicht mehr. Das Geflecht der 1800 Schmuggeltunnel, welches selbst Ex-Diktator Mubarak wegen der Versorgung der Gaza-Bevölkerung nie angerührt hat, wurde seit Mitte 2013 unter dem neuen Militärmachthaber al-Sisi komplett zerstört. Das Übrige tat das dilettantische Vorgehen von Kairos Diplomaten, die vor einer Woche zwar mit Israels Spitze in Tel Aviv konferierten, nicht aber mit der Islamistenführung in Gaza-Stadt.

Die Selbstblockade Ägyptens ziete weitere Kreise

Letztlich ausschlaggebend aber dürfte sein, dass die ägyptische Gaza-Initiative untrennbar verknüpft ist mit Sisis totalem Feldzug gegen die Muslimbruderschaft am Nil. Jede Konzession an deren Hamas-Filiale nebenan käme aus Sicht des Kairoer Ex-Marschalls einer Teilrevision seiner propagierten Heimatfront gegen den Terror und einer Schwächung seiner Legitimität als oberster Feldherr gegen den Islamismus gleich. So zieht die ideologische Selbstblockade Ägyptens dieser Tage neue, weitere Kreise. Und die geschlagenen Menschen in Gaza sind in der arabischen Welt isolierter als je zuvor.