In einem Nationalpark könnte die Artenvielfalt zunehmen, weil man den Wald sich selbst überlässt. Doch Biologen warnen vor diesem Argument: Niemand wisse, wie sich die Natur entwickelt. Trotzdem wäre ein solches Schutzgebiet interessant, sagen die Forscher.

Stuttgart - Den Missionar möchte der Schweizer Kurt Bollmann nicht spielen. Die Entscheidung über die Ausweisung eines Nationalparks im Nordschwarzwald könne nicht die Wissenschaft treffen. Dieser Aufgabe müssten sich Politik und Gesellschaft stellen, sagt der Naturwissenschaftler von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Das sei eine „gesellschaftliche, politische, normative Frage“.

 

Dennoch plädiert der Biologe, der seltene Arten und die Auswirkungen von Klima- und Landnutzungswandel auf die Waldbiodiversität erforscht, für einen Nationalpark. Denn 75 Prozent von dessen Fläche sollen laut der Internationalen Schutzorganisation IUCN als Kernzone unter Prozessschutz stehen. Dort soll sich die Natur ungestört entfalten können. Prozessschutz heißt für Bollmann, „offen zu sein, Entwicklungen zu beobachten und Dinge zu lernen, die wir heute noch nicht ahnen“.

Das rund 17.000 Hektar große Suchgebiet eines möglichen Nationalparks, der etwa 10.000 Hektar groß werden soll, ist von Experten der Landesministerien ausgesucht worden. Es ist wenig zerschnitten von Straßen, ein großer Teil der Fläche steht, etwa als Bannwald, bereits unter Schutz oder wird seit dem Sturm Lothar nicht mehr forstwirtschaftlich genutzt. Und vor allem: es handelt sich um Staatswald. Hier gebe es die einmalige Chance, einen Nationalpark einzurichten, sagt Bollmann. Er arbeitet an der Gesamtkonzeption Waldnaturschutz beim Landesbetrieb Forst Baden-Württemberg mit.

Viele kleine Schutzgebiete oder lieber ein großes?

Ein Nationalpark wäre auch eine Chance für die Wissenschaft. „In dieser Kernzone gäbe es Lernfelder für natürliche Entwicklungen und Prozesse, wie sie sonst in Europa nur an wenigen Orten zu beobachten und dokumentieren sind“, betont Bollmann. Weil es in Europa keine unberührten Urwälder mehr gibt, weiß man wenig darüber, wie die ökologische Selbstorganisation ohne menschlichen Einfluss abläuft. Die Beobachtung der natürlichen Entwicklungen auf sehr großen Prozessschutzflächen ist für Bollmann wissenschaftlich ein Wert für sich – unabhängig davon, ob die Vielfalt der Arten und Lebensräume dabei zunimmt.

Der Biologe warnt vor Versprechungen und Prognosen. Mehrfach hat bereits die Natur die Wissenschaftler widerlegt. Im schweizerischen Nationalpark Engadin, 1914 eingerichtet, war die jahrhundertelange Alpwirtschaft aufgegeben und auch die Jagd verboten worden. Das Reservat wurde als „Wildnisgebiet“ nach der höchsten IUCN-Kategorie Ia deklariert. Nach 50 Jahren belegen Fotos der Stichprobenfläche: entgegen den Annahmen hat sich der Wald nicht merklich ausgedehnt. Keiner hatte erwartet, dass Hirsche und Gemsen die Funktion des Viehs übernehmen und sich die Zahl der Pflanzenarten fast verdoppelt hat. Ein weiteres Beispiel ist der Nationalpark Bayerischer Wald. Dort ist das Auerhuhn nicht verschwunden, obwohl ihm nach Sturm, Borkenkäferfraß und großflächigem Zusammenbruch der Fichtenbestände der Winterlebensraum fehlte. Stattdessen profitierten die Auerhühner von aufgewerteten Brutlebensräumen im Sommer. „Wer hätte das vorher gewusst?“, fragt Bollmann.

Einige Wissenschaftler sehen es nicht als erwiesen an, dass ein Nationalpark die biologische Vielfalt erhöhen wird. Zu ihnen zählt Albert Reif von der Universität Freiburg. Er würde daher ein System von Bannwäldern vorziehen. Bollmann kann das nachvollziehen: Mit einem Netz großer Bannwälder, repräsentativ verteilt vom Schwarzwald über den Bodenseeraum, die Alb und das Neckarland, könnte die sogenannte Beta-Diversität besser gefördert werden. Als Beta-Diversität wird der sich ergänzende Artenreichtum verschiedener Lebensräume verstanden. Dann hätte man wie in einem „bunten Wiesenblumenstrauß wenige Blumen von vielen verschiedenen Arten“. Im Vergleich dazu wäre die Alpha-Diversität, also die Artenvielfalt in einem einzelnen Lebensraum, wegen der geringeren Fläche der Bannwälder im Vergleich mit einem Nationalpark, geringer. Aber man hätte, um im Bild zu bleiben, viele Blumen von weniger Arten. Was zählt mehr?

Was geschieht eigentlich, wenn ein Wald alt werden darf?

Für Bollmann geht es nicht um „die Maximierung der Artenvielfalt“, sondern vermehrt um „qualitative Aspekte im Naturschutz“. Deshalb könne es beim Thema Biodiversität nicht um ein Entweder-oder gehen, also die Wahl zwischen einem großen oder vielen kleineren Schutzgebieten, sondern um ein Sowohl-als-auch. Bollmanns Hauptargument: beides würde sich ergänzen. Ein Nationalpark würde die „Werkzeugkiste im Naturschutz“ um ein „sehr effektives Instrument“ erweitern.

Profitieren würden davon Tier- und Pflanzenarten, die auf große Mengen Totholz und lange ungestörte Entwicklungsphasen angewiesen sind: Pilze, Insekten, Moose, Flechten. Solche Spezialisten des Zerfalls gibt es – trotz Totholzinseln – nicht in einem bewirtschafteten Wald. Dort werden die Bäume in ihrer optimalen Phase vom Förster geerntet.

„Was passieren würde, wenn der hohe, geschlossene Wald übergeht in eine Zerfallsphase und schließlich in den Zusammenbruch, wissen wir nur ansatzweise“, sagt Bollmann. Ohne natürliche Störungen kann es mehrere Hundert Jahre dauern, bis Alt zerfalle und Jung nachwachse. Wäre der ganze Prozess ein Kinofilm, „dann gehen wir sozusagen in der Pause nach Hause“. Für den Biologen Bollmann wäre es aus gesamtökologischer Betrachtung bedeutsam, „wenn es ein paar Orte gäbe, wo man den ganzen Waldfilm zeigen könne“. Auch wenn der Schlussvorhang erst einige Menschengenerationen später fiele.