Russland und die Ukraine verhandeln derzeit eine Friedenslösung, die Zeichen stehen auf Entspannung. Doch das ficht die Nato nicht an. Sie trainiert wieder den Ernstfall gegen Moskau – an der polnischen Grenze.

Bydgoszcz - Der Gegenangriff erfolgt im Morgengrauen. Landungsboote bringen Nato-Soldaten an die Strände der estnischen Insel Hiiumaa, die vom großen Nachbarstaat erobert worden ist. Das Brüsseler Hauptquartier der Allianz hat den Bündnisfall ausgerufen, eine Truppe von 40 000 Mann ist zusammengestellt worden. Der deutsche Vier-Sterne-General Hans-Lothar Domröse leitet die Operation zur Befreiung des besetzten Nato-Gebiets. Die Stimmung im Lagezentrum ist angespannt. Alle wissen, dass die schwersten Kämpfe noch bevorstehen. Auf der Videoleinwand prangt die Karte Estlands, im Norden der Insel Hiiumaa sind die Stellungen der roten Armee markiert.

 

In den tageslichtlosen Räumen des Trainingszentrums im polnischen Bydgoszcz kann man schon mal vergessen, dass es sich um eine Übung handelt. „Es gibt keinen Unterschied zu einer echten Operation“, sagt US-Oberst Donovan Philipps. Das Training für den echten Kampf fällt den 400 angereisten Nato-Soldaten umso leichter, weil das Szenario so vertraut wirkt. „Die Übung soll so realistisch wie möglich sein“, sagt der niederländische Generalmajor Hans van Griensven, der sie mit seinem Stab konzipiert hat, „auch im Hinblick darauf, was Russland in der Ukraine gemacht hat.“

Als Reaktion auf diese Krise hat der Gipfel der Staats- und Regierungschefs Anfang September in Wales beschlossen, die Truppenpräsenz in den Mitgliedstaaten Osteuropas zu erhöhen – über eine schnelle Eingreiftruppe, die in wenigen Tagen vor Ort sein kann, sowie mehr Manöver und Übungseinheiten. Die Militärs setzen den Auftrag jetzt um. „Als Rückversicherung für unsere Mitgliedstaaten führen wir nun deutlich mehr Übungen zur Landesverteidigung durch“, erzählt Kommandeur Domröse in seinem Büro, „wie an einer Perlenschnur von der Ostsee bis hinunter ans Schwarze Meer.“ Im Militärjargon ist das die Ostflanke, für die sich die Nato lange nicht mehr interessiert hat. Das ist jetzt anders. „Wir haben einen potenziellen neuen Feind“, stellt der Deutsche nüchtern fest, „und das ist Russland.“

Krieg an allen Fronten

Offiziell heißt der Feind auf der Gefechtskarte im Lagezentrum Bothnien und liegt nicht im Osten von Estland, sondern im Norden, dort, wo eigentlich Finnland liegt. Und dass eine Insel annektiert worden ist wie zu Jahresbeginn die Krim, soll schon viel früher geplant gewesen sein. „Diese Szenarien sind aus der Konserve“, sagt der kommandierende Offizier, „sie enthalten aber Elemente des Zeitgeschehens.“

Das kann man wohl sagen. Der Geheimdienstoffizier beispielsweise berichtet in der morgendlichen Lagebesprechung von Kämpfern ohne Hoheitsabzeichen, die auf Hiiumaa im Einsatz sind – so wie das auf der Krim zu beobachten war. Im Internet tobt derweil ein Kampf um die Deutungshoheit in diesem Konflikt. Sind die Bothnier nicht nur ihrer von den Esten unterdrückten Minderheit auf der Insel zu Hilfe geeilt? Die Kanadierin Hope Carr ist eigens dafür angestellt worden, um die Öffentlichkeit zu simulieren und die Nato-Leute mit kritischen Fragen dieser Art zu löchern. Der US-Major und Social-Media-Spezialist Rick Galeano analysiert in Echtzeit, was im selbst erfundenen Kurznachrichtendienst „Chatter“ sowie dem Netzwerk „Facepage“ läuft – und präsentiert die Ergebnisse in der Morgenlage: „Wir überwachen in dieser Übung die sozialen Netzwerke: Für uns ist das eine Art Frühwarnsystem. Wir bekommen Anhaltspunkte dafür, dass bald etwas passieren wird.“ Krieg an allen Fronten, dem Stab soll ordentlich Dampf gemacht werden.

Plötzlich kommt von der Seeaufklärung die Nachricht herein, dass sich ein Schiff, möglicherweise mit Waffen an Bord, der Insel nähert. Schnell verschwindet eine Gruppe von Fachleuten in einem Nebenzimmer, um die Optionen durchzugehen. Zeitgleich fällt in ganz Estland der Strom aus – ein Cyberangriff hat die Kraftwerke des Landes lahmgelegt. Die Nato-Truppen haben eigene Generatoren dabei, doch die Regierung fordert Hilfe der Allianz an. Und da heißt es parieren, man ist schließlich bei sich selbst zu Gast, in einem Mitgliedsland, das auch im Kriegsfall eine Demokratie bleiben und seine Souveränität behalten soll.

Von Bothnien-Verstehern bis zu Bothnien-Hassern

Die Jungen im Team, vor allem in Afghanistan geschult, müssen das mit der Landesverteidigung erst wieder lernen. Auch die Niederländer Ton van Loon und Leo van den Born, die alle ihre Schritte begutachten, haben im Auslandseinsatz am Hindukusch gedient. Aber die Militärrentner, als Beobachter und Berater engagiert, kennen auch die alte Zeit, haben den Kalten Krieg als Soldaten erlebt – und stellen fest, dass die Allianz den strategischen Kurswechsel noch nicht verinnerlicht hat. „Es geht darum, ein anderes Denken als in Afghanistan in den Köpfen zu verankern: Wir sind nicht da, um Estland zu helfen, sondern der Bündnisfall ist eingetreten. Die Nato befindet sich im Krieg.“

General Hans-Lothar Domröse leitet das Manöver. Foto: EPA

Die Bothnier bieten eine Feuerpause an. So wie sie auch in der Ukraine ausgehandelt, aber noch nicht hundertprozentig umgesetzt worden ist. Der Kommandeur muss Rücksprache mit der politischen Ebene halten. Dort gibt es Bothnien-Hasser, die alles für eine Finte halten, und Bothnien-Versteher, welche die Nato für den eigentlichen Aggressor halten und sich regelrecht auf die Offerte stürzen. Doch man einigt sich: Was dem Nicht-Nato-Land Ukraine trotz des dadurch wahrscheinlicher gewordenen Gebietsverlustes erstrebenswert erscheint, gilt nicht für Estland. „Es gab den Versuch, die Allianz durch das Angebot eines Waffenstillstands zu spalten“, berichtet der Simulationserfinder Hans van Griensven, „aber in dieser Übung werden wir einen eingefrorenen Konflikt auf Nato-Gebiet nicht akzeptieren.“ Die Bothnier erhalten ein Ultimatum: Abzug oder Vernichtung.

Wie aber hält es die Nato in der Realität mit Frieden und Entspannung? Es gibt hoffnungsvolle Signale, gerade nach den jüngsten Gesprächen zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem ukrainischen Amtskollegen Petro Poroschenko. Werden die durch die militärischen Muskelspiele in Osteuropa nicht behindert? Laut Domröse gibt es diese Überlegungen: „Wir versuchen bei den Übungen die Balance hinzubekommen, dass sich einerseits die Länder Osteuropas geschützt fühlen, aber andererseits Russland nicht behaupten kann, es werde provoziert.“

Auf alle Eventualitäten vorbereitet sein

Ganz davon lassen wollen er und die Nato aber nicht. Der Grund sind die Regierungen im Baltikum, in Polen oder Rumänien, die gut zwei Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion um keinen Preis wieder in die Fänge Moskau geraten wollen. „Natürlich wollen wir mit der Übung den Ländern der Region zeigen: Wir sind für euch da. Wir sind bereit, euch zu verteidigen – denn sie machen sich wirklich Sorgen“, sagt Martin Klein, Sprecher des Einsatzführungszentrums.

Gegenprobe in den Gassen der 300 000-Einwohner-Stadt, die wieder in altem klassizistischem Glanz erstrahlt: „Eine gute Sache, dass die Nato hier ist“, sagt der 48-jährige Damian, mit seinem Sohn unterwegs. Gänzlich enttäuscht von der Allianz ist dagegen Justina, Jahrgang 1986. „Ich glaube nicht mehr an die Allianz“, sagt sie, während ihre beiden Freundinnen kopfnickend zustimmen, „weil sie bisher überhaupt nichts gegen die Aggression Russlands unternommen haben. Die reden nur.“

Sie üben nur – zum Beispiel, wie man die  Hilfsorganisation einbindet, um die Flüchtlinge zu versorgen, die den Kämpfen entkommen wollen. Und dabei bleibt es nach Ansicht von General Hans-Lothar Domröse auch: „Präsident Putin wird nicht verrückt sein, er greift die Nato nicht an.“ Auf alle Eventualitäten vorbereitet sähe er sie dennoch gerne – schließlich habe gerade die Ukraine gezeigt, dass auch unterhalb der Schwelle eines direkten Angriffs ein Land destabilisiert werden kann: „Präsident Putin kann mit Hilfe seiner grünen Männchen Unwohlsein erzeugen.“

So eine Übung endet immer mit einem Sieg. Am Freitag endet die Nato-Übung Trident Joust. Die fiktive Pressemitteilung zur Befreiung der Insel Hiiumaa von den bothnischen Aggressoren ist schon fertig.