Im Oberen Donautal zwischen Fridingen und Sigmaringen haben sich auf den Felsköpfen seltene eiszeitliche Pflanzen erhalten – doch Gämsen lieben gerade diese Arten.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Sigmaringen - Da staunen selbst die Gämsen, so leicht und sicher marschiert Dieter Dobler mit seinen 84 Jahren die steilen Hänge des Donautals hinauf. Er ist, im Kopf und im Körper, noch immer voller Energie, und man sieht ihm an, dass er als früherer Förster und als Naturschützer sein ganzes Leben draußen verbracht hat. Trotzdem, oder gerade deshalb, ist Dobler nicht gut zu sprechen auf die Gämsen, die sich seit einer Aussiedlung bei Balingen Ende der 1950er Jahre auch im Oberen Donautal zwischen Fridingen und Sigmaringen ausgebreitet haben. Sie fressen mit Vorliebe die Ästige Graslilie, das Felsen-Hungerblümchen, den Salzburger Augentrost oder den Berg-Heilwurz. Sehr viele dieser Arten sind selten, streng geschützt – und womöglich bald verschwunden.

 

Auf und an den vielen Felsköpfen des Donau-Durchbruchtals lebt die letzte Eiszeit fort. Viele Pflanzen, die aus der südwestdeutschen Tundra vor 10 000 Jahren stammen, behaupten sich dort tapfer gegen karge Bedingungen und extreme Temperaturen – auf dem Fels gibt es kaum Humus und Wasser, und tagsüber heizt die Sonne den Stein auf, während nachts ein kalter Wind darüber pfeift. Es sind nur noch kleine Inseln, auf denen diese Xerothermvegetation, so der Fachausdruck, überdauert hat – gerade 1,5 Prozent der Fläche sind Donautal ist noch von ihr besiedelt.

In zehn Jahren ging die Zahl der Arten um die Hälfte zurück

Ob am Eichfelsen oder am Bischofsfelsen, schon nach Sekunden hat Dieter Dobler das Corpus delicti entdeckt: Überall finden sich die Kötel der Gams, auch die ausgetretenen Liegeplätze kann Dobler leicht erkennen. Die Gämsen lieben diese sonnigen Plätze, und sie lieben die Leckerbissen: „Seit 1989 versuchen wir, die Zahl der Gämsen zu verringern, doch es hat für die Vegetation kaum etwas gebracht“, sagt er. Der Naturschützer Wolfgang Herter, der im Mai überraschend gestorben ist, hat zehn Jahre lang an 19 Plätzen elf Pflanzenarten beobachtet. Sein Ergebnis ist ernüchternd: Die Zahl der Individuen ging stark zurück, an zwölf von 19 Orten hat sich die Zahl der gefundenen Arten um mindestens die Hälfte reduziert. An einem anderen Felsen, wo zum Vergleich ein fünf Mal fünf Meter großes Gatter errichtet wurde, kann selbst der Laie den Unterschied erkennen: Im Gatter sind die Pflanzen selbst jetzt im Oktober noch fast kniehoch, außerhalb ist fast alles bis auf den Boden abgefressen.

Es ist aber durchaus nicht so, dass das Problem ignoriert wird. Schon seit längerer Zeit gibt es einen Runden Tisch mit allen Betroffenen. Früher waren die Fronten vor allem zwischen Jägern und Naturschützern verhärtet – heute redet man miteinander und trifft Vereinbarungen. Die wichtigste ist, dass eine genau festgelegte Zahl von Gämsen geschossen werden soll, um die Population klein zu halten. Gerade aufgrund von Herters Ergebnissen sei diese Abschusszahl auf bis zu 52 pro Jahr erhöht worden, sagt Stefan Kopp, der Chef der Forstbehörde im Landkreis Sigmaringen und Leiter des Runden Tisches. Selbst Dobler räumt ein, dass der Druck auf die Pflanzen etwas nachgelassen hat. Allerdings wurden die Abschusszahlen in den vergangenen beiden Jahren nicht mehr annähernd erreicht. Über die Ursachen werde man beim nächsten Runden Tisch, der im kommenden Jahr ansteht, sprechen, sagt Kopp. Aber er fügt klar hinzu: „Die Jäger sind in der moralischen Pflicht, die Abschusspläne einzuhalten.“

Die Gämse hat auch einen touristischen Wert

Armin Hafner ist der Wildtierbeauftragte des Landkreises Sigmaringen – er arbeitet für den Naturpark Obere Donau, ist als Wanderführer unterwegs, und zugleich ist er privat einer der Jagdpächter, die in ihrem Revier Gämsen haben. Für ihn ist eindeutig, warum die Abschusszahl zuletzt nicht mehr erreicht wurde: „In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die Population der Gämsen im Donautal halbiert“, sagt er, vermutlich gebe es auf den 12 000 Hektar Fläche keine hundert Tiere mehr. „Die jetzigen Abschusspläne kann man deshalb gar nicht mehr erreichen.“ Hafner selbst hat im vergangenen Jahr vier Gämsen geschossen: „Mehr kann ich nicht vertreten, sonst lösche ich den Bestand aus.“ Er glaubt, dass der Rückgang der seltenen Pflanzenarten noch andere Ursachen haben muss als nur die Gämse – sonst hätte sich die Vegetation mit dem Schwinden der Gamspopulation zumindest ein wenig erholen müssen. Vielleicht mache auch der Klimawandel den Pflanzen zu schaffen, mutmaßt der Jäger und Ranger.

Dieter Dobler glaubt dagegen nach 30 Jahren, in denen er mit dem Bund Naturschutz Alb-Neckar für die Xerothermvegetation kämpft, nicht mehr an Kompromisse. Er persönlich ist der Meinung, dass die Gämsen als standortfremde Art ganz aus dem Donautal verschwinden müssten. Politisch durchsetzbar dürfte das kaum sein. Denn auch Bürgermeister und Wirte stehen zu den Gämsen, zwecks touristischer und kulinarischer Aspekte.

Ein Luchs reißt bis zu zwölf Gämsen im Jahr

Die Naturschützer wollen aber zumindest den Druck erhöhen. Die Sigmaringer Landrätin Stefanie Bürkle hat einen Brief erhalten, in dem sie aufgefordert wird, die Einhaltung der Abschusspläne besser zu kontrollieren. Laut Dieter Dobler würden vor allem die Jäger des Grafen Douglas Prinz zu Fürstenberg, der rund ein Viertel der Jagdfläche besitzt, nicht energisch genug vorgehen. Der Betriebsleiter des Grafen, Paul Lübbers, war jetzt nicht zu erreichen. Daneben können sich die Naturschutzverbände durchaus vorstellen, Beschwerde gegen das Land zu erheben – seit Jahrzehnten vernachlässige das Land seine Aufgabe, die seltenen Pflanzen ausreichend zu schützen, sagt Dieter Dobler.

Vielleicht ist es am Ende die Natur selbst, die den Eiszeitpflanzen hilft: Denn seit gut einem Jahrzehnt streifen wieder Luchse durch das Donautal, auch derzeit hält sich dort zumindest ein Tier auf. Armin Hafner, vielleicht der Mann mit den meisten persönlichen Luchssichtungen in Baden-Württemberg, sagt: „Der Luchs Friedl hat jeden Monat eine Gams gerissen.“ Das nutzt dem Luchs – und zugleich auch Leinblatt und Grauem Löwenzahn.