Wende bei der Aufarbeitung des SS-Massakers: Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat das Verfahren voreilig eingestellt. Gegen den verantwortlichen Offizier muss weiter ermittelt werden, entschied jetzt das OLG Karlsruhe – auf Betreiben eines Opfers.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Fast siebzig Jahre nach dem Nazi-Massaker von Sant Anna 1944 gibt es eine überraschende Wende bei dessen Aufarbeitung. Die von der Staatsanwaltschaft Stuttgart im Herbst 2012 eingestellten Ermittlungen müssen nun doch wieder aufgenommen werden – nämlich im Fall des damals verantwortlichen Kompanieführers. Dies hat das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe entschieden und damit einem Klageerzwingungsantrag eines Überlebenden von Sant Anna Recht gegeben. Da der beschuldigte Ex-Offizier heute in Hamburg, also außerhalb des OLG-Bezirks lebt, konnten die Richter keine Anklage erzwingen. Sie verpflichteten die Stuttgarter Ermittler aber, das Verfahren an die dortige Staatsanwaltschaft abzugeben.

 

Mit der Entscheidung stellte sich der 3. Strafsenat gegen die Staatsanwaltschaft und die Generalstaatsanwaltschaft in Stuttgart, die auch von Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) unterstützt worden waren. Anders als von ihnen angenommen bestehe sehr wohl ein hinreichender Tatverdacht. Eine Verurteilung wegen Mordes oder zumindest Beihilfe dazu sei wahrscheinlich, „sodass genügender Anlass zur Anklageerhebung besteht“.

„Keine vernünftigen Zweifel“ an Verantwortung

Unter Berufung auf Zeugen und historischen Gutachten konstatiert das Gericht, dass der heute 93-jährige Beschuldigte damals Führer einer SS-Panzergrenadierkompanie gewesen sei. Als solcher sei er hinreichend verdächtig, für die Ermordung Hunderter Zivilisten strafrechtlich verantwortlich zu sein. Für den Senat bestanden insbesondere „keine vernünftigen Zweifel“, dass die Befehle – die dem kommandierenden Offizier bekannt waren – „nicht auf die Partisanenbekämpfung beschränkt, sondern von vornherein auf die Vernichtung der Zivilbevölkerung . . . gerichtet waren“. Damit widerspricht das OLG einem zentralen Argument, mit dem der frühere Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler nach zehn Jahren die Einstellung der Ermittlungen begründet hatte.

Die Richter ließen „zumindest derzeit“ auch nicht gelten, dass Gerhard S. dauerhaft verhandlungsunfähig sei. Nachdem ein gerichtsmedizinisches Gutachten im Herbst 2013 zunächst darauf hingedeutet habe, hätten weitere Untersuchungen dies nicht bestätigt. Näheres müsse die fortan zuständige Staatsanwaltschaft Hamburg klären, die an die Vorgabe aus Karlsruhe jedoch nicht gebunden ist. Im Fall dreier weiterer Beschuldigter hatte das OLG die Klageerzwingungsanträge 2013 abgewiesen. Begründung: einer habe sich wohl im Lazarett befunden, ein anderer sei lediglich Mannschaftsdienstgrad gewesen, der dritte sei dauerhaft verhandlungsunfähig.

Großer Erfolg für Opfer des Massakers

Die Fortsetzung der Ermittlungen ist ein großer Erfolg für Enrico Pieri, den Sprecher der Überlebenden des Massakers, und seine Anwältin Gabriele Heinecke. Diese sprach gegenüber der StZ von „später Gerechtigkeit“. In Hamburg könne nun „unverzüglich Anklage erhoben werden“. Mit ihrer Kritik an der Einstellung durch die Stuttgarter Staatsanwaltschaft standen Pieri und Heinecke zwar nicht alleine. International gab es darüber großes Unverständnis, sogar der italienische Staatspräsident Napolitano äußerte sich empört. Auch in Baden-Württemberg erfuhren die Opfer des Massakers viel Solidarität.

Bei den Instanzen der Justiz blieben alle Proteste indes zunächst vergeblich. Die übergeordnete Generalstaatsanwaltschaft argumentierte, die Stuttgarter Staatsanwaltschaft habe angesichts der Beweislage nicht anders entscheiden können. Ausdrücklich nahm der damalige Behördenleiter auch den zuständigen Chefermittler Häußler in Schutz, der Jahre zuvor wegen seines harten Vorgehens gegen einen antifaschistischen Versandhändler in die Kritik geraten war. Auch Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) hatte Häußler den Rücken gestärkt. Dieser habe die Ermittlungen zu Recht eingestellt, ließ Stickelberger nach einer Überprüfung durch sein Haus erklären. Er sehe daher „keinen Raum für eine Weisung, Anklage zu erheben“. Eine Sprecherin des Ressorts erklärte jetzt, eine weitere Aufarbeitung der Gräueltaten sei „zweifelsohne wünschenswert“. Man wolle der Justiz eines anderen Bundeslandes aber nicht vorgreifen.