Eine Studie über die Ermordung von Behinderten in Stetten während der NS-Zeit erscheint jetzt neu. Die Untersuchung hat viel Staub aufgewirbelt.

Stetten - Es gibt Bücher, die können das Selbstbild ganzer Einrichtungen erschüttern, indem sie dunkle Kapitel ihrer Geschichte ans Tageslicht bringen. Martin Kalusche ist das mit seiner Dissertation "Das Schloss an der Grenze" hinsichtlich der Diakonie Stetten im Rems-Murr-Kreis gelungen. Nun erscheint die Neuauflage seiner Untersuchung. Sie ist am Donnerstag im Beisein des Landrates Johannes Fuchs vorgestellt worden. Akribisch beschreibt der Theologe darin die Deportation und Ermordung von 328 Bewohnern der damaligen Anstalt Stetten im Jahr 1940.

 

Zudem leuchtete Kalusche aus, wie sich die damalige Anstaltsleitung zu den Deportationen gestellt hatte. Eine Darstellung, die die Legenden über den Widerstandsgeist der Einrichtung so stark erschütterte, dass beim Erscheinen des Buches im Jahr 1997 Gegenreaktionen der damaligen Diakonieleitung unter Pfarrer Klaus-Dieter Kottnik folgten. "Es kam zu einer Entfremdung", sagt Kalusche heute.

Dabei sind dem aus Wuppertal stammenden Theologen, der heute in Hamburg lebt, seinerzeit erst allmählich die Verstrickungen der Anstaltsleitung in der NS-Zeit klar geworden. Er kam Anfang der neunziger Jahre nach Stetten. Weil er einen Gottesdienst zum Gedenken an die Ermordeten halten sollte, sei er auf das Thema aufmerksam geworden, berichtet er. Drei Jahre stellte ihn die Einrichtung dann zur Erforschung ihrer Vergangenheit frei.

328 Bewohner aus Stetten wurden ermordet

Kalusche forschte im Archiv der Diakonie Stetten dem Handeln der Anstaltsleitung während der NS-Zeit nach. Dabei erschien vor allem die Rolle von Pfarrer Ludwig Schlaich in einem zweifelhaften Licht. Der Pfarrer hatte mit Teilen der NS-Ideologie sympathisiert, nach dem Krieg jedoch sein Handeln dem Widerstand zugeordnet. Wer Kalusches Dissertation lese, erlebe "ein Wechselbad zwischen Anpassung und Widerstand", fasste der Landrat Johannes Fuchs am Donnerstag zusammen.

Längst ist die erste Auflage der Dissertation vergriffen, in der Neuauflage hat Kalusche rund ein Drittel des Textes bearbeitet. Durch Forschungen in den Archiven hat er die Zahl der ermordeten Bewohner aus Stetten auf 328 präzisiert. Sie wurden von den Bussen eines NS-Kommandos abgeholt und in Grafeneck auf der Schwäbischen Alb, zum kleinen Teil im hessischen Hademar, ermordet.

Verhältnis zur Diakonie hat sich verbessert

Zudem hat Kalusche neues Bildmaterial eingearbeitet, auch von jenen Menschen, die versuchten, die Deportationen zu verhindern. Zu ihnen zählte die junge Ärztin Leonie Fürst. Sie versuchte, die Bewohner zu retten, und sprach im November 1940 im Innenministerium in Stuttgart vor, um mit den Organisatoren des Massenmords zu verhandeln. "Sie ist von dort als gebrochene Frau zurückgekehrt", berichtet Kalusche. Sie habe sogar erwogen, einen Unfall vorzutäuschen. "Sie wollte diese schreckliche Arbeit nicht mitmachen", sagt er.

Der Autor kann mit Eifer solche Details erzählen. Das halbe Jahr, das er sich zur Vorbereitung der Neuauflage genommen habe, sei für ihn eine intensive Rückbesinnung auf seine akademische Zeit gewesen, berichtet er. Im Zuge der Arbeit habe sich sein Verhältnis zur Diakonie Stetten wieder verbessert. Die Diakonie hat neben der Kreisstiftung die Neuauflage finanziell unterstützt. Es gehe "nicht um Schuldzuweisungen", schreibt der Vorstand Rainer Hinzen in seinem Grußwort. Kalusche "erweist den Menschen Respekt, die eine sorgfältige und sorgsame Erinnerung verdient haben".

Neuauflage "Das Schloss an der Grenze" erscheint zum Holocaustgedenktag am 27. Januar, hat 520 Seiten und kostet 37 Euro. Für diesen Tag ist um 18 Uhr eine Veranstaltung zum Buch mit Martin Kalusche am Waiblinger Berufsschulzentrum geplant, einen Tag später ein Werkstattgespräch der Stettener Allmende.