Warum quälen sich manche Menschen so und schwimmen 30 Kilometer im brackigen Neckar, vorbei an Mülltüten und manch unappetitlicheren Gegenständen? Martin Tschepe, der mit seinen beiden Freunden vom SV Ludwigsburg das Abenteuer gewagt hat, wagt einen Erklärungsversuch.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Ludwigsburg - Warum nur habe ich den warmen Kaffee stehen gelassen und bin in aller Herrgottsfrühe in diesen scheiß kalten Fluss gestiegen? 14 Grad. Warum tun Menschen Dinge, die sie nicht tun müssten? Solche Gedanken gehen mir am Sonntag in aller Herrgottsfrühe unmittelbar nach dem Start durch den Kopf.

 

Eben sind wir von ein paar jubelnden Freunden im Freibad in Ludwigsburg-Hoheneck verabschiedet worden. Auch unser aller erster Trainer Bernd Krüger ist gekommen. Das Programm für diesem Tag steht seit Wochen: Zu dritt wollen wir – mit mir ins Wasser steigen meine zwei alten Kumpel vom Schwimmverein Ludwigsburg (SVL), Reiner Koch und Volker Heyn – gut 30 Kilometer im Neckar kraulen, bis nach Kirchheim. Im Wechsel. Jeder etwa zehn Kilometer weit, mit der Strömung und mit einem Begleitboot. Das ist die Auflage der Behörden. Speziell das Gesundheitsamt war zunächst gar nicht begeistert von unserer schrägen Aktion im Neckar.

Kaum jemand ist unterwegs – bis auf uns und das Begleitboot

Extremsportler, sagen Fachleute, wollen sich selbst ergründen. Aber sind wir überhaupt Extremsportler? Manche Menschen denken vermutlich eher: extrem blöd sind diese drei Typen, die von Ludwigsburg bis nach Kirchheim schwimmen wollen. Und für echte Extremschwimmer, die ohne Neoprenanzug bei solchen Temperatur ganz allein 30 Kilometer weit kraulen, wäre das nur ein schnödes Aufwärmprogramm. Eine Frage der Perspektive eben.

Allmählich wird es hell. Schon nach etwa 20 Minuten sind wir beim Uferstüble. Es ist eine grandiose Szenerie. Genau so habe ich mir den Beginn dieses Tages vorgestellt. Nur ein paar Schwäne sind auf dem Wasser. Die Gedanken an den Kaffee sind wie weg gewischt. Ein Kraulzug rechts, ein Zug links. Wieder ein Zug rechts, wieder ein Zug links. Und immer in der Nähe des Begleitboots bleiben, das Wilko Krautter von der Segelschule Häbich steuert. Links tauchen die Weinberge auf, rechts das alte Kraftwerk.

Neckarschwimmen hat eigentlich eine lange Tradition

Der Weg ist das Ziel, und im Ziel verliert die Strecke ihren Schrecken – das hat uns ein Freund mitgegeben. Stimmt. Bereits nach ein paar Kilometern ist der Schrecken wie weggewischt. Plötzlich winken die Begleiter auf unserem Boot, der Foxi, wie wild – anhalten. Was ist los? „Rechts ein Angler“, ruft Volker. Okay – ausweichen. Und weiter. Rechts, links. Nach knapp eineinhalb Stunden taucht vorne die erste von vier Schleusen auf. Marbach, 8.28 Uhr. Umsteigen auf das Boot. Die Schleusenkammern sind nämlich tabu für Schwimmer.

Schichtwechsel. Reiner macht sich bereit. Für ihn ist der Ausflug im Neckarwasser eine Rückkehr zu tiefen familiären Wurzeln. Sein Opa war anno 1908 Gründungsmitglied des SV Ludwigsburg. Und die Clubmitglieder haben während der ersten Jahrzehnte oft im Fluss trainiert. Auch Reiner hält den angepeilten Schnitt von rund fünf Kilometern pro Stunde.

Lieber nicht nachdenken, was im Neckar noch so schwimmt

Vorsicht, Frachtschiff von vorne. Die Crew dirigiert den Schwimmer nach rechts ans Ufer. Reiner hält kurz an und ruft: „Sind wir richtig?“ Scherzkeks. Verschwimmen geht nicht. Weiter, immer weiter kraulen. Der Geschmack des Wassers wechselt. Mal riecht es angenehm – fast wie ein frischer Waldsee, mal ätzend nach Klosett. Wir versuchen, möglichst wenig zu schlucken. Man sieht ja nicht mal die eigene Hand vor den Augen. Im Neckar treibt allerhand. Blätter, Tüten und vermutlich auch Unappetitlicheres – lieber nicht lange darüber nachdenken.

Schleuse Pleidelsheim. Schichtwechsel. Volker ist dran. Die Foxi muss aber warten, die Berufsschifffahrt hat Vorrang. Ein Containerschiff kommt von hinten, ein Lastkahn von vorne. Ich steige um ins Kajak, und begleite Volker, der schwimmt. „Ist das geil“, ruft er. „Besser als im See, es hört nämlich nie auf.“ Wir wechseln alle fünf oder sechs Kilometer. Fünf Kilometer können lang sein – oder kurz. Auch das eine Frage der Perspektive. Früher oder später stellt sich beim Sport ein rauschartiger Zustand sei. Dann spielen Distanzen keine Rolle mehr. Die leichte Taubheit in den Fingern, die kalten Füße sind vergessen. Ab und zu zwickt die Wade – einfach ignorieren. Und weiterschwimmen.

Das Ziel rückt näher – und mit ihm der Rausch

Alle Ausdauersportler erreichen früher oder später diesen Punkt, man nennt ihn Flow. Dann gibt es nichts Wichtigeres als das Einswerden mit dem Wasser. Die schmerzenden Muskeln sind vergessen, der Rausch stellt sich ein, ein toller Rausch, denn es gibt keinen Kater danach. Außer einen ordentlichen Muskelkater.

13.30 Uhr. Besigheim ist in Sicht. Reiner ruft aus dem Wasser: „Sagt mal, hier riecht es doch nach Bratwurst.“ Stimmt. Am besten sofort vergessen und weiter kraulen. Die letzte Schleuse. Im Kirchheim warten die Kumpel, dann gibt’s tatsächlich was zu futtern. Kurzer Stopp in Walheim. Die Kinder vom Jugendzentrum, die am Neckarufer zelten, servieren heißen Tee und Kaffee. Dann geht’s auf die Schlussetappe, nun zu dritt im Wasser. Die Arme werden schwer und schwerer. Um 15.15 Uhr sind wir im Ziel. Auch der Kirchheimer Schultes Uwe Seibold ist gekommen. Er fragt: „Wie kommt man bloß auf die Idee, so viele Kilometer im Neckar zu schwimmen?“ Und wir erzählen. Von der fixen Idee, die endlich Wirklichkeit geworden ist.

Wer sich so einen Wunsch erfüllt hat, der will mehr. Wer weiß, vielleicht kraulen wir im nächsten Jahr tatsächlich bis zur Mündung des Neckars in den Rhein bei Mannheim.