Grundstücke sind günstiger, weil die Gemeinde vom Atomkraftwerk als Steuerzahler profitiert.

Seit der Atomkatastrophe in Fukushima hat Neckarwestheims Bürgermeister Mario Dürr schon viele Interviews gegeben. „Ich werde immer wieder gefragt, wie die Leute denn direkt neben einem Atomkraftwerk leben können.” Die Dame von der „taz”, die ihn kurz nach den Ereignissen in Japan besuchte, sei offenbar ganz enttäuscht gewesen, dass die Leute hier nicht scharenweise auf der Flucht sind, erinnert sich der Bürgermeister.

Als im Jahr 1976 der erste Atommeiler in Neckarwestheim in Betrieb ging, hatte die beschauliche Neckargemeinde gerade einmal 1800 Einwohner und galt als Übernahmekandidat im Rahmen der Gemeindereform. Heute, 35 Jahre später, hat Neckarwestheim rund 3500 Einwohner, ist weiterhin selbstständig und obendrein schuldenfrei. Nach dem Bau der 16 Millionen Euro teuren Stadthalle hat die Gemeinde immer noch rund 20 Millionen Euro auf der hohen Kante. Diese Infrastrukturmaßnahmen hätten sich in den letzten Jahrzehnten auch auf die Entwicklung der Einwohnerzahlen ausgewirkt, so der Bürgermeister. Während andere Gemeinden um jeden Neubürger kämpfen mussten, „ist Neckarwestheim fast automatisch durch die Nähe zum Atomkraftwerk gewachsen”. Den ersten Bevölkerungsschub gab es 1976 mit dem Bau von Block 1, der jetzt abgeschaltet wurde. Die zweite Welle setzte zwischen 1976 und 1979 ein, als der zweite Block entstand.

„Wer hierher zieht, steht nicht jeden Tag mit dem Gedanken auf, da könnte gleich etwas explodieren”, stellt Mario Dürr nüchtern fest. Nur ein einziges Mal in seiner 15-jährigen Amtszeit als Bürgermeister sei ein Ehepaar wieder von einem Grundstückskauf zurückgetreten, weil die Frau Bedenken wegen der Nähe des Atomkraftwerks hatte. „Dann sind sie nur einige Kilometer weiter nach Lauffen gezogen. Aus den Augen, aus dem Sinn”, kommentiert der Bürgermeister kopfschüttelnd.

Natürlich ist man auch in Neckarwestheim für den Fall der Fälle gerüstet, versichert Dürr. Aber den möglichen Ernstfall haben die Bürger nicht ständig vor Augen. „Die Menschen haben hier überwiegend eine positive Einstellung zum Atomkraftwerk. Die Jüngeren kennen es gar nicht anders”, sagt der Bürgermeister. Selbst der Atombunker unter dem Rathaus hat eigentlich mit dem Atomkraftwerk im ehemaligen Steinbruch nichts zu tun. Anfang der 80er Jahre gab es wohl noch reichlich Zuschüsse vom Bund für derartige Anlagen. Mit einem Teil der Fördermittel wurde damals auch gleich die Tiefgarage unter dem Rathaus mitfinanziert, vermutet der Schultes.

Dennoch wohnen nur rund 250 der 800 Mitarbeiter des Neckarwestheimer Kernkraftwerkes am Ort. Das liege aber nicht daran, dass sie ihrer eigenen Technik nicht vertrauen. „In den ersten Jahren waren Baugrundstücke Mangelware”, erinnert sich der Bürgermeister. Viele der Techniker und Ingenieure des neuen Atomkraftwerkes wichen deshalb auf die Nachbarorte aus.

Für den Heilbronner Immobilienmakler Hartmut Siegel ist Neckarwestheim eine Gemeinde wie viele in der Region Heilbronn/Franken. Ob das Kernkraftwerk sich auf den Immobilienmarkt auswirke? Nein, er habe noch nichts Negatives gehört. Wenn der Standort von einem Kunden abgelehnt werde, dann liege das eher an der fehlenden Infrastruktur, so Siegel.

Um die aktuelle Nachfrage nach Baugrundstücken zu befriedigen, hat die Gemeinde gerade erst wieder ein neues Baugebiet mit zehn Hektar erschlossen. Auch die aktuellen Ereignisse in Japan scheinen den Grundstücksgeschäften der Gemeinde keinen Abbruch zu tun. Rund 30 Prozent der Parzellen sollen schon verkauft sein. Das liegt natürlich in erster Linie am Preis, weiß auch der Bürgermeister. Zwischen 220 und 230 Euro kostet derzeit der Quadratmeter Grund in Neckarwestheim. Ein Schnäppchen vor allem für die Käufer aus der Region Stuttgart, die ganz andere Preise gewöhnt seien. Dennoch würden die Bauplatzpreise in Neckarwestheim von der Gemeinde nicht subventioniert. „Das ist ein Grundsatzbeschluss des Gemeinderats”, so der Bürgermeister. Er verhehlt aber auch nicht, dass sich die Gemeinde nur aufgrund der Gewerbesteuereinnahmen durch das Atomkraftwerk diese günstigen Grundstückspreise leisten könne. Müsste der Ort wie andere Gemeinden seinen Haushalt durch Grundstücksverkäufe ausgleichen, läge der Quadratmeterpreis sicher auch bei 300 Euro, gibt Dürr unumwunden zu. Um Grundstücksspekulationen von Anfang an zu vermeiden, würden in Neckarwestheim auch erst dann neue Baugebiete ausgewiesen, wenn die Grundstücke mehrheitlich im Besitz der Gemeinde seien, so Dürr.

Während der Grundstücksverkauf fast schon wie von selbst läuft, tut sich der Geschosswohnungsbau in der kleinen Gemeinde schwer. Mario Dürr kennt auch den Grund: „Wer aufs Land zieht, will das frei stehende Einfamilienhaus. Den zieht es nicht in eine Etagenwohnung.” Das könne man auch in der Stadt haben.

Andererseits hat auch Neckarwestheim mit der Landflucht zu kämpfen, weiß Arnold Romminger, Vorsitzender des Gutachterausschusses von Neckarwestheim. Deshalb seien auch viele der Häuser in den letzten zehn Jahren unter Wert verkauft worden. Im Durchschnitt bekommt man in Neckarwestheim ein Reihenhaus für 250 000 Euro und eine Doppelhaushälfte für 350 000 Euro. Dass sind rund 100 000 Euro weniger als in vergleichbaren Gegenden in der Region Stuttgart. Ein Zweifamilienhaus mit sechs Ar Grundstück sei schon für 300 000 Euro zu haben, so Romminger.

Während in Neckarwestheim „der Einser”, wie der Block 1 von den Bewohnern genannt wird, bereits abgeschaltet wurde, sieht Dürr dem Ausstieg aus der Atomenergie gelassen entgegen. „Bei uns wird es nicht dunkel. Block 2 läuft noch bis 2022, und dann gibt es eine relativ lange Abbauphase von mindestens 15 Jahren”, rechnet der Bürgermeister vor. In der Zwischenzeit könne man sich über die Nachnutzung Gedanken machen, die durchaus etwas mit Energieerzeugung zu tun habe könnte, philosophiert Dürr ein wenig.

Bis dahin ist es noch weit, und so verteilt die Gemeinde weiterhin an alle Neubürger zur Begrüßung einen Satz Jodtabletten.