Ein todkranker Künstler will mit vier Menschen aus seiner Vergangenheit ins Reine kommen. Doch was in Neil Cross’ Thriller „Gefangen“ als melancholische Rückschau beginnt, endet in Blutbädern.

Lokales: Hans Jörg Wangner (hwe)

Stuttgart - Das soll ein Thriller sein? Diese melancholische Exposition, diese Geschichte vom todkranken Künstler, dem sein Hirntumor vielleicht noch sechs Wochen Zeit gibt, dieses Schwelgen in bittersüßen Erinnerungen an längst Vergangenes?

 

Doch gemach. Neil Cross (der Erfinder der BBC-Serienfigur „Luther“) lässt sich in „Gefangen“ angemessen viel Zeit, um Kenny Drummond einzuführen, einen, wie man leichthin sagen würde, sympathischen Mann um die Vierzig, der sich von seiner Ex-Frau verabschieden will. Der sich nach Jahren noch grämt, dass er einen mutmaßlichen Kinderschänder nicht hat identifizieren können. Und der auf der Suche ist nach einer verschwundenen Jugendliebe, die einst in der Grundschule neben ihm saß und unter der Bank mit ihm füßelte.

Fast die ganze Wahrheit

Kennys Liste also: irgendwann, sehr spät im Buch, schafft er es, seiner Ex-Frau die Wahrheit über seinen Zustand zu sagen (nun ja, wenigstens die medizinische Wahrheit, aber sehr viel mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden). Bei dem mittlerweile erwachsenen Jungen, dessen Beinahe-Schänder nie gefasst wurde, entschuldigt er sich für sein Unvermögen und der Ladenbesitzer, der dieses Kind einst mit Hilfe eines Baseball-Schlägers vor der Entführung bewahrte, ist mittlerweile verstorben.

Bleibt Callie. Callie Barton, das Mädchen aus der Grundschule.

Schuld und ganz schön Buße

Kenny stöbert ihren früheren Mann auf, den Landschaftsgärtner Jonathan Reese, kidnappt ihn und macht mit ihm Sachen, die in einem gewissen Missklang zu seinem eingangs gezeichneten Charakter stehen. So spielt zum Beispiel auch der auf dem Titel abgebildete und auf Seite 108 erstmals erwähnte Klauenhammer eine kleine Nebenrolle. Überhaupt müssen Menschen, die in irgend einer Weise Schuld auf sich geladen haben, dafür ganz schön büßen, wobei Cross auch vor drastischen Schilderungen nicht zurückschreckt.

Also doch: ein Thriller. Und ein nicht wenig brutaler dazu.

Neil Cross: Gefangen. Roman Aus dem Englischen von Marion Herbert. 240 Seiten, Paperback. Dumont Buchverlag, 8,99 Euro. Auch als E-Book, 6,99 Euro.