Einst war der Nesenbach die Lebensader für Stuttgart. Heute ist er aus der Landeshauptstadt fast verschwunden. Eine Suche nach der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft des Gewässers.

Stuttgart - Werner Stahl steht am mutmaßlichen Quelltopf des Nesenbachs im Westen von Vaihingen und erinnert sich an den Tag seiner Jugend, an dem ihm das Gewässer seinen wahren Charakter offenbarte. Im Winter 1949 wollte er, damals acht Jahre alt, mit seinen Freunden Ski fahren. Die Jungs schnallten sich Bretter unter die Schuhe und träumten von rasanten Abfahrten. Ihre Piste: die Honigwiesen, ein sumpfiges Gebiet am Rande des Stuttgarter Stadtbezirks. Doch Werner Stahl bretterte schnurstracks in den Nesenbach. Nur ein Rinnsal, aber es verfehlte seine Wirkung nicht: „Was habe ich gestunken, penetrant nach Kloake“, erzählt er.

 

Werner Stahl, heute 71 Jahre alt, lernte an diesem Winternachmittag fürs Leben: Der lustig durch die Honigwiesen plätschernde Nesenbach ist kein naturbelassenes Flüsschen, sondern Stuttgarts größter Abwassersammler. Bereits damals führte er das Abwasser aus der Kaserne am Lauchhau mit, zunächst aus der Kurmärker Kaserne, nach dem Krieg aus den amerikanischen Patch-Barracks.

Lange bevor der Nesenbach seinen heutigen Namen erhielt, gehörte er zum Leben der Vaihinger, Kaltentaler, Heslacher und Stuttgarter. Er war die Lebensader der Menschen und nicht nur ihr Abwasserkanal. Bereits 1490 wurde „der Bach“, wie er damals meist nur genannt wurde, herangezogen, um die Trinkwasserversorgung des württembergischen Hofs zu sichern. Damals wurde die erste Wasserleitung von Kaltental aus zum Alten Schloss gelegt, eine sogenannte Teichelleitung. Teichel sind etwa drei Meter lange, aufgebohrte Fichtenstämme. Bei der Neugestaltung des Bihlplatzes 1984 wurden solche Teichel im Erdreich gefunden. Diese erste Trinkwasserleitung schwächte den Nesenbach allerdings auch: Zwischen Kaltental und seiner Mündung in den Neckar führte er weniger Wasser und büßte damit einen Teil seiner Selbstreinigungskraft ein.

Stahl verlässt den sandigen Weg, der über ein Holzbrückchen führt. Er geht durch die Wiese auf den Maschendrahtzaun zu, der das Gelände des Audi-Zentrums von den Honigwiesen trennt. 1985 glaubte die Stuttgarter Verwaltung, an dieser Stelle den Quelltopf des Nesenbachs entdeckt zu haben. „Deswegen hat die Stadt hier so etwas nachgebaut, was wohl an die Rheinquelle erinnern soll“, vermutet der Vaihinger. „Ein paar Steine, an denen der Fluss aus der Erde sprudelt.“

Tatsächlich hat sich um den künstlich aufgeschichteten Quelltopf Wasser angesammelt. „Das ist aber kein Quellwasser“, ist sich Stahl sicher. „Das ist der Regen der letzten Tage.“ Denn im Sommer sei der Graben oft trocken. Der Nesenbach habe zwar hier sein Quellgebiet, doch in den Honigwiesen könne man keinen exakten Quellort ausmachen. „Hier ist es ja überall sumpfig“, sagt Stahl.

Eine der ältesten erhaltenen Karten des Nesenbachs stammt aus dem Jahr 1622. Damals zeichnete der württembergische Hofbaumeister Heinrich Schickhardt den Verlauf des Gewässers nach. Als Quelle sind die Honigwiesen angegeben, das Gebiet war damals noch nicht bewohnt. Eine Beschreibung des Königreichs Württemberg aus dem Jahr 1851, verfasst vom Oberamt Stuttgart, wird nicht konkreter: „Ungefähr eine Viertelstunde vom mit gut unterhaltenen Straßen versehenen Pfarrort Vaihingen auf den Fildern entspringt in den Honigwiesen der Nesenbach.“

Der Boden im Regenüberlaufbecken an der Böblinger Straße auf Höhe der Stadtbahnhaltestelle Vogelrain ist spiegelglatt. „Aufpassen“, sagt Robert Hertler, der Leiter des  städtischen Kanalbetriebs, und grinst: „Hier besser nicht rutschen, das ist Klärschlamm.“ Will heißen: die Ablagerungen der vorigen Nacht, alles, was in Vaihingen und Kaltental von Betrieben und Haushalten in die Kanalisation eingeleitet worden ist – Abwasser aus Duschen, Waschmaschinen und Toiletten. Manchmal ist das Treibgut auch größer, ein Feuerlöscher war sogar mal dabei. „Ist uns ein Rätsel, wie der reingekommen ist“, sagt Robert Hertler. „Wir haben keine Chance zurückzuverfolgen, woher er stammte.“

Der Nesenbach schlägt Wellen

Das Gebiet Vogelrain war schon früher ein Knotenpunkt des Nesenbachs. Dort wurde das Wasser aus der Glems über den Pfaffensee, den Christophstollen und die Heideklinge in den Bach geleitet. Angelegt und aufgestaut wurde der Pfaffensee 1566, nachdem der Nesenbach immer weniger Wasser geführt hatte. Der Grund: Herzog Christoph hatte im Jahr 1565 mehrere Nesenbachzuflüsse zur Trinkwasserversorgung des Hofs heranzogen. Dadurch war die Lebensgrundlage der Müller gefährdet. Diese beschwerten sich beim Herzog, woraufhin dieser seine Brunnenbaumeister eine Lösung erarbeiten ließ: das Aufstauen der Glems. Um das Wasser vom Pfaffensee in den Nesenbach zu leiten, wurde der 850 Meter lange Christophstollen gebaut. Mit ihm entstanden die Heslacher Wasserfälle an der Alten Leonberger Straße, ein künstlich angelegtes Naturschauspiel. Auf Höhe der heutigen B-14-Brücke am Vogelrain mündete die Glems in den Nesenbach.

Stechender Klärwassergeruch steht in der Halle. „Es wird viel über tolles Essen gesprochen“, sagt Robert Hertler, „dann muss man auch darüber reden, was hinterher damit passiert.“ Nach ein paar Minuten hat sich die Nase daran gewöhnt. „Geht jetzt, oder?“, fragt Hertler.

Er stapft auf eine kaum meterbreite Rinne zu, durch die braunes Wasser schießt. „Das ist der Nesenbach“, ruft Hertler gegen das Tosen an. Vom „Hauptsammler“ sprechen nicht einmal Hertler und seine Mitarbeiter, obwohl der Bach seit Jahrhunderten der zentrale Abwasserkanal ist.

Historisch belegt ist, dass es bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts Mühlen am Nesenbach gegeben hat. Von der Schlossmühle in Kaltental über die drei Heslacher Mühlen bis hin zur Unteren Mühle an der Tübinger Straße 46 nutzten die Müller den Bach als Energiequelle. Die Untere Mühle, an deren Stelle heute die Brauerei Dinkelacker steht, wird erstmals 1334 erwähnt. Sie wurde bis 1868 betrieben und im Jahr 1900 abgerissen.

An der Böblinger Straße ist der Kanal weit von den bis zu fünf Metern Breite entfernt, auf die er auf seinem Weg in Richtung Norden anwächst. Dennoch schlägt er auch hier mehrmals im Jahr Wellen – wenn es heftig regnet. „Bei Trockenheit 25 Minuten ab Vaihingen-Rathaus bis hier“, rechnet Robert Hertler die Fließgeschwindigkeit des Wassers vor, „bei Starkregen weniger als zehn Minuten.“

Der Niederschlag, der dann zusätzlich zum Abwasser in die Gullys gurgelt, lässt den Nesenbach innerhalb kürzester Zeit anschwellen. Dann kann das 7500 Kubikmeter fassende Regenüberlaufbecken volllaufen. Bis zu zwölfmal im Jahr passiert das. Robert Hertler deutet auf die Schimmelringe an den Säulen, die die Hallendecke stützen: „Das da oben könnte die Marke vom September sein.“

Bereits im Jahr 1508 berichten Chronisten von Wassermassen, die der Nesenbach mit sich führte. Damals ertranken elf Menschen. Weder die Hochwassergefahr, die von dem Bach ausging, noch der zeitweise Wassermangel verhinderten, dass sich im 16. und 17. Jahrhundert immer mehr Menschen entlang des Gewässers ansiedelten. Gerber und Färber bauten ihre Häuser an seinem Ufer, um Abwässer und Abfälle zu beseitigen. Das Gerberviertel zeugt noch heute davon – zumindest mit seinem Namen. Damals war der Nesenbach ein sichtbarer Teil von Stuttgart. Erst 1864 wurde damit begonnen, den Bach zu kanalisieren.

„Und so sah der Nesenbach vor 2002 etwa aus.“ Hertler hat das unterirdische Regenüberlaufbecken verlassen und steht auf dem Grünstreifen an der Böblinger Straße. Rechts rauscht der Verkehr, links an der Hangseite das Wasser eines Bächleins. Bis 2002 verlief der Nesenbach von Kaltental bis hier überirdisch. Dann wurde das Regenüberlaufbecken gebaut und damit auch der letzte Abschnitt des Abwassersammlers verdolt. Das Bächlein, das manche für eine Renaturierung des Nesenbachs halten, habe nichts mit ihm zu tun. „Das ist Wasser aus den Klingen von Kaltental.“