Das World Wide Web polarisiert die Nutzer – und auch die Netzavantgarde. Eine Bestandsaufnahme vor dem Bloggerkongress Republica in Berlin.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Thea Bracht (tab)

Stuttgart - Vor 20 Jahren konnte man noch eine E-Mail-Adresse mit seinem Vornamen ergattern, und überhaupt war die digitale Welt samt ihrer Akteure überschaubar. Der Hacker war der Generalist im Netz, der 1981 gegründete Chaos Computer Club (CCC) sein soziales Netzwerk. "Alter Datenadel", nennt der Schriftsteller und CCC-Ehrenvorsitzende Peter Glaser die Pioniere mit einer Prise Selbstironie.

 

Der Großteil der Bundesbürger hatte damals nicht die geringste Ahnung von dem, was sich im Netz abspielte. Als Anfang August 1984 erstmals eine E-Mail unter einer deutschen Adresse einging, elektrisierte das höchstens ein paar Fachleute. Welcher Durchschnittsbürger hatte schon Zugang zu vernetzten Rechnern?

Heute verschwimmen die Grenzen. Knapp drei Viertel der Erwachsenen surfen im Netz, mehr als die Hälfte informiert sich hier regelmäßig über das politische Geschehen, und fast 17 Millionen Bundesbürger pflegen Freundschaften bei Facebook. Tablet-Computer und Smartphone sind digitale Verführung pur. Immer und überall können die Anwender beobachten, was ihre Freunde gerade in den sozialen Netzwerken treiben. Laut der Studie "Die digitale Gesellschaft in Deutschland 2010" sind 37 Prozent der Bundesbürger in der digitalen Alltagswelt angekommen. Der informierte Teil der Gesellschaft verfolgt zudem die Debatten über Internetsperren oder Open Access, also den freien Zugang zu wissenschaftlicher Literatur.

Ist der Wissensvorsprung der Netzpioniere damit kleiner geworden? Und wer gehört - noch - zu den Vordenkern? Tatsächlich interessiert sich nicht mehr nur eine kleine Gruppe von Technikbegeisterten für die Entwicklungen in der Informationstechnologie. Mehr als 4000 Hacker treffen sich mittlerweile beim Chaos Computer Congress in Berlin, und nun werden 3000 Netzaktivisten zum Kongress Republica 2011 erwartet. Sie diskutieren über Blogs, soziale Medien und die digitale Gesellschaft. Das dreitägige "Klassentreffen der Blogger" ist zu einem Großereignis mit diversen Sponsoren avanciert. Gut vier Wochen vor Beginn waren bereits alle regulären Tickets ausverkauft.

"Viele Themen sind noch lange nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen"

Einige bemängeln eine Kommerzialisierung der Republica, andere sehen die Entwicklung positiv. "Viele Themen sind noch lange nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen, da sind Moderatoren einfach wichtig", sagt der Blogger und Urheberrechtsexperte Matthias Spielkamp. Er moniert, mit welchem Unverständnis gerade die klassische Elite des Landes nach wie vor auf die digitale Revolution reagiere. Zu einer Verhärtung der Fronten kam es seiner Ansicht nach mit dem am 22. März 2009 veröffentlichten Heidelberger Appell, der von dem Literaturwissenschaftler Roland Reuß initiiert wurde. Darin wenden sich die Unterzeichner gegen die Digitalisierung urheberrechtlich geschützter Werke durch die Google Buchsuche sowie gegen Open Access. Jan Philipp Reemtsma, Daniel Kehlmann, Alexander Kluge und viele andere Intellektuelle haben unterschrieben. "Das war frustrierend", sagt Spielkamp. Sein Hauptvorwurf: die bürgerliche Elite wolle massiv Einfluss auf den gesetzlichen Umgang mit Zukunftstechnologien nehmen, ohne sich mit der Materie richtig auseinandergesetzt zu haben. Die Digitalisierung urheberrechtlich geschützter Werke durch Google und Open Access seien zwei völlig unterschiedliche Dinge, die in dem Appell vermischt würden.

"Die Vertreter der Hochkultur drängen geradezu auf Abgrenzung", hat auch der Republica-Organisator Markus Beckedahl, der das Blog netzpolitik.org betreibt, beobachtet. Bekanntestes Beispiel: in seinem Buch "Payback" beklagt der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher die Überforderung durch die Informationsflut und warnt vor einer computerdominierten Zukunft.

In den USA müssen sich Professoren verteidigen, wenn sie keinen eigenen Blog führen, und Internetgrößen wie Bill Gates gehören selbstverständlich zur gesellschaftlichen Elite. Hierzulande scheint es hingegen zwischen traditioneller Elite und Netzaktivisten bis jetzt kaum Überschneidungen zu geben. Der Soziologe Michael Hartmann kann sich nicht vorstellen, den Elitebegriff auf die Internetintelligenz anzuwenden: "Elite hat mit Macht zu tun, da kann vielleicht der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg dazugehören. Der Blogger Sascha Lobo würde sich dagegen nicht mit meinem Elitebegriff decken."

Den meisten Netzaktiven ist der Elitebegriff ohnehin zu ausgrenzend und statisch. "Das Internet sorgt für mehr Durchlässigkeit in der Gesellschaft", meint Markus Beckedahl, "in dem Bereich zählen vor allem Kommunikationsfreude und Wissbegierde, nicht das Elternhaus." Einig sind sich die meisten darin, dass es so etwas wie eine Internetavantgarde in Deutschland gibt. Doch wer gehört dazu? Die Industrie macht es sich bei der Antwort einfach: Für sie zählen allein die Anwender, die sich für jede technische Spielerei begeistern. Florian Rötzer, der Chefredakteur beim Online-Magazin "Telepolis", definiert Avantgarde anders. "Das sind diejenigen, die die Medien nicht nur nutzen, sondern auch verstehen."

Studie mit 200 "Heavy Usern"

Die Computerbegeisterten bildeten noch nie eine homogene Gruppe. Vertreten waren IT-Berater, Studenten und auch Unternehmer, die eines verband: die Lust am Abenteuer Technik. Aber eines hat sich im Laufe der Jahre verändert: es ist eine Fragmentierung eingetreten. Den Generalisten gibt es angesichts der rasanten technologischen Entwicklung nicht mehr. Internetbegeisterte Kulturschaffende, Netzwerker, Techniker - sie alle sind dem Rest der Bevölkerung einige Klicks voraus, nutzen das Web jedoch völlig unterschiedlich. Diese Vielfalt spiegelt sich bei der Republica wider. Das Themenspektrum der Veranstaltungen reicht von Kunst, Medien und Kultur über Politik und Technik bis hin zu Entertainment. "Es gibt die Hackeravantgarde, die Anwenderelite, die kulturelle Avantgarde oder die meinungsbildende digitale Elite", zählt der Blogger Markus Beckedahl auf. Und so zersplittert die aktive Netzgemeinde ist, so unterschiedlich ist auch ihr Blick auf die technischen Innovationen der vergangenen Jahre und das Selbstverständnis der einzelnen Gruppierungen.

Zu einem interessanten Ergebnis ist der Bremer Psychologe Peter Kruse gekommen, der knapp 200 "Heavy User" befragt und die Ergebnisse bei der Republica 2010 vorgestellt hat. Demnach existieren zwei Grundtypen in der Gruppe der Vielsurfer: der "Digital Visitor" (Besucher) und der "Digital Resident" (Einwohner). Letzerer lebt das Internet, Ersterer weiß zwar um dessen Bedeutung, liebt es aber nicht. Entsprechend unterschiedlich bewerten die beiden Typen den virtuellen Raum. Vereinfacht gesagt: der Besucher sieht eher die Gefahren, der Einwohner die Chancen.

Zu den Skeptikern gehört der Medienwissenschaftler Geert Lovink. Er vermisst das visionäre Denken der neunziger Jahre und bezweifelt, dass überhaupt noch eine Netzavantgarde existiert. Die einfache Nutzung des Internets fördere die Illusion, souverän damit umgehen zu können. Doch bilde man sich nicht ständig informationstechnisch fort, werde man zum unmündigen Konsumenten, sagte er der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Vor allem prangert Lovink das Verhalten der Nutzer in sozialen Netzwerken wie Facebook an. Diese hätten sich zu einer reinen Kopie der realen Welt entwickelt. "Eine Tragödie der Selbstrepräsentation", nennt er das.

Ursprünglich hätte man viel spielerischer mit der Identität im virtuellen Raum umgehen wollen. Lovink hat seinen Facebook-Account im vergangenen Jahr gelöscht.

Fröhlich rechnet die Journalistin Kathrin Passig im "Merkur" mit dieser Art des Kulturpessimismus ab: "Wer darauf besteht, zeitlebens an der in jungen Jahren gebildeten Vorstellung von der Welt festzuhalten, entwickelt das geistige Äquivalent zu einer Drüberkämmer-Frisur: Was für einen selbst noch fast genau wie früher aussieht, sind für die Umstehenden drei über die Glatze gelegte Haare."

Manche leben im Netz, andere außerhalb

Jammern würden immer diejenigen, an denen die technologische Entwicklung vorbeigezogen sei. "Es ist aufwendig, sich immer auf dem neuesten Stand zu halten", räumt die Schriftstellerin ein, "und man kann immer nur in einigen Bereichen gut informiert oder sogar Avantgarde sein, in anderen ist man dafür total abgehängt." Die 40-Jährige wünscht sich mehr kindliche Begeisterung für die Möglichkeiten, die das Netz eröffnet.

Überforderung auf der einen Seite, Euphorie auf der anderen - der Kulturkampf tobt nicht nur zwischen traditioneller Elite und Netzpionieren, sondern offensichtlich auch in der Internetgemeinde selbst.

Eindimensionale Debatten führen zu nichts

Warum polarisiert die digitale Entwicklung sogar die "Heavy User"? Weil sie in parallelen Wertewelten leben, sagt der Wissenschaftler Peter Kruse. Während die "Digital Visitors", unabhängig vom Alter, verlässliche Beziehungen schätzen und Überforderung und Oberflächlichkeit hassen, wollen die "Digital Residents" dynamische Prozesse aktiv mitgestalten und sich nicht bevormunden lassen. Kurzum: Menschen wie Geert Lovink bevorzugen die Welt außerhalb des Internets, andere ziehen mit der kompletten eigenen Identität dort ein. Kein Wunder also, dass sich ideologische Debatten vor allem an Facebook entzünden. Doch über kulturelle Wertemuster lässt sich nicht produktiv streiten, die Grundkontroverse ist einfach nicht lösbar. "Da muss es zu Konflikten in der Kommunikation kommen", schlussfolgert Kruse.

Ob bei den Themen Internetsperren, Datenschutz oder digitale Bildung: eindimensionale Debatten über das Pro und Contra des Internets führen zu nichts. Es zählen Fakten, nicht Befindlichkeiten. Die digitale Revolution ist nicht zu stoppen, und mehr denn je ist die Gesellschaft auf die Expertise der Netzvordenker angewiesen, bevor Wirtschaft oder Politik Fakten schaffen. Deshalb ist es gut, dass Vertreter des Chaos Computer Clubs inzwischen als Sachverständige vor dem Bundesverfassungsgericht auftreten.

Die Internetpionierin Rena Tangens sieht die Netzavantgarde in einer besonderen gesellschaftlichen Verantwortung. Der von ihr mitgegründete Verein FoeBuD richtet die deutschen Big Brother Awards aus. In der Kategorie "Kommunikation" ging der Negativpreis vor ein paar Tagen an die Facebook Deutschland GmbH. "Facebook ist auf dem besten Weg, zum zentralen Knoten zu werden - und die Leute bezahlen das ,Gratisangebot' mit ihrer ganzen Persönlichkeit, ohne sich über die Konsequenzen klar zu sein", urteilt die Datenschutzaktivistin. Aufgabe der Netzavantgarde sei es, ihrer Zeit vorauszudenken und frühzeitig auf Probleme hinzuweisen - und zwar nicht nur aus technischer Perspektive.

Auch der "Telepolis"-Chefredakteur Florian Rötzer hält die "Gestaltung der öffentlichen Datenräume" für das entscheidende Thema der digital vernetzten Gesellschaft. Gut möglich, dass große Veranstaltungen wie die Republica den digitalen Vordenkern helfen, mit einer breiteren Öffentlichkeit in einen Dialog zu treten. Denn einzelne Blogger finden bisher nur selten außerhalb der Netzgemeinde Gehör. Nicht zuletzt fehlt es vielen an fachübergreifendem Wissen. Nur eine Minderheit ist technisch versiert und zugleich bürgerrechtlich aktiv. Für die klassische Elite wären das genügend gute Gründe, sich differenzierter an den Diskussionen zu beteiligen, meinen Experten. Der Blogger Matthias Spielkamp wünscht sich eine engagierte digital vernetzte Bürgerschaft: "Es gibt zu wenige echte Intellektuelle unter den Netizens, und viel zu wenig Intellektuelle, die ,Digital Residents' sind."