„Der 100-Jährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ wurde als Roman zu einem Welterfolg. Der Bestseller dient als Vorlage für den Regisseur Felix Herngren, der die turbulente Gesichte um eine Zeitreise von Donnerstag an in die Kinos bringt.

Stuttgart - Mit hundert Jahren weiß Allan Karlsson eines sicher: Das Leben ist, wie es ist. Und es kommt, wie es kommt. Und sollte es einen auf dem Rücken eines Elefanten mitten ins schwedische Hinterland führen, wird auch das schon seine Richtigkeit haben. Ebenso wie der Umstand, dass eben jener Karlsson an seinem hundertsten Geburtstag aus dem Fenster des Altenheims klettert, in dem er eigentlich seinen Lebensabend verbringen soll. Warum genau er das tut, weiß keiner so recht. Macht aber nichts, denn das ‚Warum‘ hebelt sich in der Verfilmung von „Der 100-Jährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ ebenso zielsicher selber aus wie schon in Jonas Jonassons gleichnamiger Romanvorlage.

 

Allan Karlssons Flucht aus dem Fenster? Zufall. Das Leben an sich? Zufall. Die ganze Weltgeschichte? Richtig, purer Zufall. Und der Erfolg von Jonassons Erstling? Zumindest kam er überraschend. Nachdem der schwedische Journalist und Autor mit seiner Geschichte zunächst bei mehreren Verlagen abgeblitzt war, mauserte sich der endlich publizierte Roman zum Megaseller. „Der 100-Jährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ hat sich allein in Deutschland mehr als 2,3 Millionen Mal verkauft, wurde in 35 Sprachen übersetzt und schöpfte sein Mundpropagandapotenzial voll aus: die Spiegel-Bestseller-Liste führte er 32 Wochen lang an.

Originalgetreu aber mit Überraschungen

Ein Buch zu verfilmen, zu dem fast jeder Zuschauer schon eigene Bilder im Kopf hat, diese scheinbar sichere Geschäftsidee kann schon mal nach hinten losgehen. In diesem Fall passiert das aber nicht. Zufall? Wohl kaum. Eher ist das Gespür des Regisseurs Felix Herngren entscheidend, der es versteht, die Ansprüche von Originaltreue und Überraschungsbedürfnis auszubalancieren: Herngren behält den tiefschwarzen Humor des Romans bei, bricht allerdings dessen ironische Distanz auf. Die Figuren und Dialoge werden unmittelbarer, ohne ihren teils absurd-komischen Charme einzubüßen. Einerseits bleibt Herngren so nah genug an der Vorlage, um die Fans des Buches nicht zu enttäuschen, verliert sich aber andererseits nicht in Einzelheiten. Er streicht, kürzt und setzt Schwerpunkte, ohne damit die Dynamik der Geschichte zu verändern.

Besonders der Schwede Robert Gustafsson beeindruckt als Allan Karlsson und macht nicht nur äußerlich eine erstaunliche Verwandlung durch. Mal springt er als dynamischer Mittzwanziger durch die Geschichte, mal schwankt er mit schütterem Haar und beeindruckend realistisch tastendem Gang als Hundertjähriger über die Straße. Einzig der naiv-ungläubige Blick bleibt dabei stets derselbe.

Hauptfigur trinkt sich durch die Weltgeschichte

Wie der Roman springt auch die Verfilmung zwischen zwei Zeitebenen hin und her: Neben der eigentlichen Geschichte zeigen Rückblenden, wie sich Karlsson im Laufe seiner hundert Lebensjahre mit liebenswert naivem Zweckrationalismus durch die Weltgeschichte trinkt und es dabei immer schafft, dort zu landen, wo sich das historisch Entscheidende abspielt – natürlich stets ohne die leiseste Ahnung zu haben, wo er gerade hineingerät.

Der spanische Diktator Franco erwählt den Unbedarften aus Dankbarkeit als Saufkumpan, nachdem dieser ihm aus Versehen das Leben gerettet hat. Und das, obwohl Allan ursprünglich auf der Seite der Franco-Gegner die Freiheit verteidigen wollte. Mit dem Bruder von Albert Einstein landet er ein paar Jahre später in einem russischen Arbeitslager, in den USA ist er dem Physiker Oppenheimer versehentlich beim Bau der Atombombe behilflich.

Geschichte schreibt der Zufall

Eins ist bei diesem eigenwilligen Jahrhundertrückblick sicher: Geschichte schreibt der Zufall. Auch Allan Karlssons Abgesang auf die Pantoffelträgertage im Altenheim wird in Herngrens skurrilem Roadmovie als Verkettung teils absurd komischer Zufälle inszeniert: Ließe Allan auf seiner Flucht nicht einen Koffer mitgehen, in dem sich ungeschickterweise fünfzig Millionen Kronen verstecken, bekäme er kein Problem mit einer mordlustigen Motorradgang. Hätte er mehr Kleingeld in der Tasche, würde er nicht an einem gottverlassenen Flecken Erde aus dem Bus hinaus geworfen. Und bräuchte er nicht eine Pause vom vielen Laufen, stieße er nie auf den Einsiedler und Gelegenheitsdieb Julius (Iwar Wiklander), der ihn fortan bei seinen Abenteuern begleiten wird.

Wohin genau es gehen soll, wissen die beiden selbst nicht so genau. Nur weg von den Kriminellen, die hinter ihnen her sind. Ungewollt (wie auch anders?) hinterlassen sie auf ihrer Flucht eine skurrile Spur der Verwüstung. Den ersten ungebetenen Gast vergessen sie über Nacht im Kühlraum und müssen am nächsten Morgen erstaunt feststellen, dass er schockgefrostet wurde. Den zweiten erwischt das Hinterteil der bereits erwähnten Elefantendame, und auch für den Dritten nimmt es kein gutes Ende. Nur die beiden Oldies selbst kommen stets ungeschoren davon. Mit strategischem Denken hat das allerdings wahrlich wenig zu tun. Wenn das Leben einem Steine in den Weg wirft, hilft für Allan und Co. nur eines: darüber klettern.

Der Film ist eine Absage an das ewige Grübeln

Besonders deutlich wird das durch den Kontrast zur Figur des unzufriedenen Dauerstudenten Benni (David Wiberg), den Dritten im Bunde. Der ist so verkopft, dass er kaum mehr einen geraden Satz herausbekommt. Sich für irgendwas entscheiden, das kann er schon lange nicht mehr. Für was auch, wenn einem so viele Möglichkeiten offen stehen? Vom Fleck kommt er so, anders als Allan, allerdings nicht.

Überhaupt ist der Film bis zu seinem herrlich verrückten Ende bestimmt von einer Absage an das ewige Grübeln, das strategische Vorausplanen und das bohrende Genau-wissen-wollen. Das Leben ist, wie es ist. Und es kommt, was kommt. Planend ausgehen kann man nur von einem: Der Zufall holt uns früher oder später sowieso wieder ein.