Die ARD zeigt am Ostersonntag eine Neuverfilmung des „doppelten Lottchen“. So heiter-dramatisch der Familienfilm auch ist, so problematisch ist doch noch immer das Kinderbuch von Erich Kästner, das ihm zugrunde liegt.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Erich Kästners Buch „Das doppelte Lottchen“ ist mit der Entwicklung der Bundesrepublik eng verbunden. Im Sommer 1948 nimmt der Autor, der ja, einem sächsischen Baum gleich, von Deutschland „nicht fort“ wollte, wie er dichtete, die Arbeit daran auf. Der Stoff ist schon älter. Joseph Goebbels, der unter anderem Kästners unter Pseudonym gefertigtes Drehbuch zu „Münchhausen“ (mit Hans Albers) hatte passieren lassen, konnte „Das große Geheimnis“, wie das „Lottchen“ in einer Rohfassung hieß, in den Endkriegswirren nur nicht mehr verfilmen lassen.

 

Seebühl also. In Seebühl am Bühlsee, das es nicht gibt, spielt die Geschichte vom „Doppelten Lottchen“, und wenn jetzt, in der Neuverfilmung durch den SWR, ein alter VW-Bus dem smaragdgrünen Wasser des realen Wolfgangsees entgegenrumpelt, muss man daran denken, in welcher Stimmung sich Kästner die Geschichte seinerzeit wieder vornahm. Düster ist gar kein Ausdruck. Im später ausgesparten Vorwort, das aus Verkaufsgründen einer Lachgesichter schneidenden Heiter- und Harmlosigkeitsetüde weichen musste, ging Kästner die Wege, die man damals ging. Durch Trümmerlandschaften. Weihnachten in der Baracke, kein Licht, keine Kohlen: „Und dann kommt ein Flugzeug und wirft Bonbons ab. Einen ganzen Sack voll. Und dann sieht uns ein Polizist und nimmt uns alles wieder weg.“ Gedruckt wurde das, wie gesagt, nicht. Aber wegzudenken ist es kaum.

Kinderbuch und Grundgesetz: ein Parallelprojekt

Direkt neben Kästners Schreibplatz auf der Fraueninsel tagt im übrigen, auf der Herreninsel im Chiemsee, der Verfassungskonvent. Dort entsteht das deutsche Grundgesetz, das bis heute Bestand hat. Und auch Kästner schreibt einen Long- und Bestseller, sein nach „Emil und die Detektive“ erfolgreichstes Buch, eine Art Jugendbibel für Jahrzehnte, in über dreißig Sprachen übersetzt und unzählige Male verfilmt, von Josef von Baky bis Nancy Meyer: Luise und Lotte, nach der Geburt von den überforderten Eltern getrennte Zwillinge (Mann Dirigent und Komponist, Typ Gustav Mahler; Frau Journalistin, Typ Luiselotte Enderle, Kästners Lebensgefährtin), wachsen in Wien und München auf, treffen sich mit zehn Jahren zufällig in der Kindersommerfrische am Bühlsee, verstehen, was gespielt worden ist, und ändern die Regeln. Luise, die Extrovertierte, fährt als Lotte nach München. Lotte, die Introvertierte, geht als Luise nach Wien. Der einzige, der vorerst etwas vom Rollentausch merkt, ist Peperl, der Hund eines Wiener Hofrats. Als endlich alle etwas merken, gibt es ein Happy Ending inklusive Familienzusammenführung und Neuheirat der Geschiedenen. Vielleicht geht alles ein bisschen schnell, aber so sind Märchen nun mal.

Im künstlerischen Gedächtnis der Bundesrepublik hat die zuckersüße Baky-Verfilmung von 1951, die damals fast alle Preise bekam („Ein sehr heiterer Film – über eine sehr ernste Frage“, wie die Kinowerbung hieß) ihren festen Platz. Gezeigt wurde ein Problem, das die meisten Familien nicht haben konnten, weil sie keine mehr waren. Männer gab es eh wenige – und scheiden ließ man sich noch nicht. Als der Regisseur Joseph Vilsmaier die Handlung unter dem Titel „Charlie & Louise“ Mitte der neunziger Jahr wiederbeleben wollte, entschloss er sich, hauptsächlich an den Äußerlichkeiten etwas zu ändern. Entschlossen topfte er Seebühl nach Schottland um, ließ seine Protagonistinnen mit Walkman ausrüsten und eine Sprache reden, die zeitgemäß sein sollte. Insgesamt ging es aber weniger „geil ab“, als sich das die Macher vorgestellt hatten, was auch daran lag, dass aus der Mutter Luiselotte Körner, die bei Kästner zu den Ausgebeuteten der Medienbranche gehört, einfach eine Karrierefrau an der Hamburger Alster wurde, zu deren Lebensstandard am Schluss die Mädchen und der Mann aufschließen. Der Film war ein Lehrstück in angewandtem Neoliberalismus mit verschärftem Ellbogeneinsatz, der sich dann auch gesamtgesellschaftlich durchgesetzt hat.

Ein P für mehr Pfeffer

In der Neuverfilmung von Lancelot von Naso (Drehbuch: Niko Ballestrem) heißt der Kapellmeister Ludwig Palfy jetzt Jan mit Vornamen (Florian Stetter), und er hat aus der Geschichte gelernt, dass auch mal Schluss sein muss mit unverbindlichen Geschichten. Nachdem er jahrelang mit Luise (Mia Lohmann) durch Afrika getingelt ist und unterwegs einen Hit nach dem anderen geschrieben hat, übernimmt er in Salzburg eine Professur am Mozarteum. Seine Ex-Frau (Alwara Höfels), nunmehr Charlize geheißen, unterhält in Frankfurt derweil einen Blog, der „Vaterseeelenallein“ heißt. Was Jan und Luise in Afrika erleben, liest sie wiederum in deren Blog. Lotte (Delphine Lohmann) weiß von alledem nichts. Nebenbei: Peperl, der Hund, hat jetzt ein „p“ mehr – Pepperl. Es klingt ein bisschen, als ob in die Story mehr Pfeffer müsste. Dabei ist schon ordentlich welcher drin.

Während die Kamera nämlich das Geschehen zwischen Main und Salzach in hübschen, manchmal originellen Bildern einfängt und alle ihr Bestes geben (allen voran die Zwillinge), steht doch immer wieder ein Fremdkörper im Raum – und das ist Kästners Sprache. Man kann tun und lassen, was man will, aber an ihr, die immer Kästner redet, kommt man nicht vorbei. Es nützt Jan Palfy, der schon „viele coole“ Aufnahmen gemacht hat, also nichts, wenn er seine Tochter am Wolfgangsee mit den Worten: „Sie ist schon ein bisschen ein wild thing“ vorstellt, weil Luise es bereits in der nächsten Szene mit Frau Muthesius zu tun bekommt. Leser aller Zeiten werden sich erinnern: Als Luise und Lotte nach der ersten Auseinandersetzung die besten Freundinnen werden und sich die Haare gleich frisieren, schreitet die Ferienheimleiterin „mit königlich strafenden Blicken in den tollen Jubel hinein“, der auch entsteht, weil die anderen Kinder Luise vorher geraten haben, ihrer Schwester „die Nase abzubeißen“. Sagt das heute noch einer? Und gibt es noch eine Frau Muthesius, der Margarita Broich hier in der Rüschenbluse einen Restcharme erspielt? Eher nicht, und womöglich ist und bleibt die kluge Regisseurin Caroline Link, die 1999 einmal „Pünktchen und Anton“ modernisierte, doch die einzige, die sich von Kästner je hat emanzipieren können, indem sie seiner auftrumpfenden Übermoral die Stirn bot. Sie transportierte seinen Geist mehr als seine Worte.

Kästner, der beschädigte Mann

Tatsächlich – und das gehört eben auch zum Hintergrund eines der Lieblingsbücher der Deutschen – sprach da ja in und durch Erich Kästner ein immens beschädigter Mann: Seine eigene Mutter, schwer depressiv, hatte ihn immer wieder damit gequält, von einer der Dresdner Brücken ins Wasser zu springen. Sein Vater war nicht sein Vater, das war der Hausarzt. Der erwachsene Kästner wiederum hatte eine kindische Neigung, seine Mutter zu verklären, er war ein Mann der Frauen, aber nie ein Mann für Frauen. Seinen einzigen Sohn Thomas, das gemeinsame Kind mit Friedel Siebert, deren Existenz er mehr oder minder geheim hielt, erkannte er erst spät an. Ein wirkliches Verhältnis zu ihm gewann er nie.

Es kann gut sein, dass die Neuverfilmung des „Doppelten Lottchen“ deswegen den Zuschauern genau jene routinierte Rührseligkeit erspart, die Kästner oft großzügig spendierte, wenn er nicht mehr wirklich seiner Meinung war. Oder besser: wenn er seinen eigenen moralischen Standards nicht mehr gewachsen war. Der neue Film endet jetzt mit der mäßigen Zuversicht der Mädchen, dass ihr gemeinsames Leben demnächst doch noch einmal in leicht anderen Bahnen verlaufen könnte. Mehr an sozialromantischem Überbau wäre nicht statthaft. Das bleibt, auch 2017: heiterer Film, ernste Sache. Sonntag, 14.05ARD,